Quelle: Gemälde von Boris Michailowitsch Kustodijew, gemeinfrei
Um die Wende 1916/1917 befand sich Europa in einem Krieg, der in zweieinhalb Jahren schon Millionen Opfer gefordert hatte. Die Kriegsbegeisterung, die im Sommer 1914 breite Kreise der Bevölkerung ergriffen hatte, hatte sich längst verflüchtigt. In Europa waren, wie es der britische Außenminister Edward Grey im Sommer 1914 vorausgesehen hatte, „die Lichter ausgegangen“. 2 Doch sollten bis zum Ende des Weltkrieges noch zwei weitere Jahre vergehen, und besonders für den Osten Europas brachte der Herbst 1918 noch lange keinen dauerhaften Frieden.
Viele der Länder, in denen Renovabis heute tätig ist, waren unmittelbar vom Kriegsgeschehen betroffen. Sie gehörten zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn oder lagen innerhalb des Russischen Zarenreiches. In Österreich-Ungarn war mit dem Tod Kaiser Franz Josephs I. am 21. November 1916 eine Epoche zu Ende gegangen. Manche Historiker formulieren rückblickend, er sei die letzte Klammer gewesen, die den immer morscher werdenden Vielvölkerstaat zusammengehalten habe. Sein Nachfolger Karl I. (als König von Ungarn: Karl IV.) trat ein schweres Erbe an. In Russland war die Lage allerdings wesentlich brisanter; sie spitzte sich in den Wintermonaten 1916/1917 immer mehr zu.
Militärisch geschah in jenen Wochen an der Ostfront nicht sehr viel. Russland hatte in den ersten Jahren gegenüber Österreich-Ungarn strategische Vorteile errungen und den Gegner beinahe sogar überrannt. Nur mit massiver Unterstützung des Deutschen Reiches konnte das Zarenreich 1915/1916 in die Defensive gezwungen werden. Russlands Siege waren allerdings teuer erkauft: Ende 1916 näherte sich die Zahl der Gefallenen, Vermissten und Verwundeten der 6-Millionen-Marke (bei ca. 180 Millionen Einwohnern), und die sich ständig verschlechternde Ernährungslage führte immer häufiger zu Hungerrevolten. Zar Nikolaus II., der seit August 1915 selbst den Oberbefehl über die Armee führte, lehnte dringend notwendige innenpolitische Reformen ab und verstärkte stattdessen polizeiliche Überwachungsmaßnahmen. In der Hauptstadt Petrograd 3] kam es angesichts von Preissteigerungen und Lebensmittelknappheit im Januar und Februar 1917 zu Demonstrationen und Streiks in den Fabriken, in deren Folge auch die Produktion kriegswichtiger Güter einbrach. Ab dem 7. März [22. Februar] 1917 überschlugen sich dann die Ereignisse, und am 9. März [24. Februar] waren trotz eisiger Kälte über 200.000 Demonstranten in Petrograd unterwegs und forderten das Ende der Zarenherrschaft. 4
Der letzte Akt der über 300jährigen Romanow-Dynastie mutet fast grotesk an, wenn man der Darstellung des britischen Historikers Edward Crankshaw folgt: „Truppen, die zur Bekämpfung der Unruhen eingesetzt wurden, verweigerten den Gehorsam und verbündeten sich mit den Demonstranten. Die Duma 5 war paralysiert … Inzwischen hatte Nikolaus von den Vorgängen zu Hause erfahren und beschlossen, vom Hauptquartier in Mogilew nach Petrograd zurückzukehren. Zu seiner Überraschung wurde sein Zug im Bahnhof von Pskow angehalten. Höflich teilte man dem Zaren mit, die Fahrt könne nicht weitergehen … Er machte noch immer keine Anstalten, die mißliche Realität wenigstens anzuerkennen. Doch er kämpfte auch nicht mehr. Als Duma-Abgeordnete neun Tage nach Ausbruch der großen Revolution in Frack und Zylinder beim Zaren vorsprachen und seine Abdankung forderten, da stimmte er bereitwillig zu, weil dies sicherlich Gottes Wunsch war. Doch warum er abdanken sollte, das wußte er ganz sicher nicht.“ 6
Nikolaus II., der mit der Gesamtsituation deutlich überfordert gewesen war, verzichtete am 15. März [2. März] 1917 auf die Krone. Die neue Regierung stellte ihn und seine Familie unter Hausarrest. Es folgten erste demokratische Reformen. Das Ende der Monarchie bedeutete aber nicht das Ende des Krieges, denn trotz massiven Widerstandes in Bevölkerung und Armee wurden die Kampfhandlungen fortgesetzt, die im Sommer 1917 in eine schwere Niederlage gegen die deutschen Armeen einmündeten. Dadurch verlor die bürgerliche Regierung schon wenige Monate nach dem Umsturz ihren Rückhalt in der Bevölkerung. In der Folgezeit gewannen andere Kräfte an Macht, die nicht nur in Russland eine sozialistisch-kommunistische Staats- und Gesellschaftsordnung etablierten, sondern darüber hinaus ganz Ostmitteleuropa fast bis zum Ende des 20. Jahrhunderts prägen sollten.
Dr. Christof Dahm