Ein Beitrag von Zsolt Vitári
Dr. habil. Vitári Zsolt ist Dozent am Lehrstuhl für Zeitgeschichte des Historischen Instituts der Universität Pécs (Ungarn).
Zweifellos ist der Erste Weltkrieg bis heute einer der wichtigsten Bezugspunkte der europäischen Geschichte. Die seit 2014 andauernden Erinnerungsereignisse, Ausstellungen, wissenschaftlichen Tagungen und Filme zeugen von einem unveränderten Interesse. Andere Jubiläen wie z. B. die Wiederentstehung eines unabhängigen Polens sowie die Bildung von Nachfolgestaaten der österreich-ungarischen Monarchie sind eine unmittelbare Folge des „Großen Krieges“. Natürlich stellen der Erste Weltkrieg und noch mehr seine Folgen auch in der ungarischen Geschichte die wichtigste Zäsur dar, die dem historischen und als tausendjährig angesehenen Ungarn ein Ende setzte. Das bis heute lebendige Nationaltrauma „Trianon“ wird 2020 im Mittelpunkt der Erinnerung stehen – darauf deuten bereits heute Äußerungen ungarischer Politiker hin, aber auch die Wissenschaft engagiert sich, indem die Ungarische Akademie der Wissenschaften eine Forschungsgruppe „Trianon 100“ eingerichtet hat, um anlässlich des Jubiläums neue Forschungsergebnisse präsentieren zu können.
„Glückliche Friedensjahre“?
Im Falle Ungarns bedeutete nicht nur die Niederlage im Ersten Weltkrieg und nachfolgend der Verlust des größeren Teils des Landes bzw. der Bevölkerung eine schwere Erschütterung – nicht weniger bedrückend war für die Menschen der Kontrast zur Lebenswelt der Vorkriegszeit. Anders gesagt: Die „glücklichen Friedensjahre“, werden in der historischen Erinnerung verklärt: Ungarn hatte mit dem Ausgleich von 1867 seine Bewegungsfreiheit innerhalb der Doppelmonarchie wiedergewonnen, entwickelte und modernisierte sich seither rasch; die Urbanisierung zeigte große Fortschritte, die Infrastruktur mit der ersten U-Bahn auf dem Kontinent wurde erstrangig, seit 1849 war das Land von keinem Krieg mehr betroffen gewesen – und es schien mit Franz Joseph auf dem Thron bis in alle Ewigkeit so zu bleiben.
Hinter der Fassade sammelten sich jedoch auch etliche Probleme an. Die Monarchie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer schwerfälliger. Das einst als wichtige Stabilisierungsmacht des südosteuropäischen Raumes angesehene Reich musste auf der internationalen Bühne zuerst die Entstehung des modernen Italien auf seine eigenen Kosten hinnehmen, dann entfremdete es sich immer mehr von Russland, wodurch das Zarenreich nach und nach zum Hauptfeind wurde, dessen Interessen die der Doppelmonarchie in erster Linie auf dem Balkan kreuzten.
Ein möglicher russischer Angriff, der bereits seit den 1870er Jahren als unvermeidbar angesehen wurde, war auch in den militärischen Doktrinen Österreich-Ungarns das erste Axiom. In der Ära Bismarck war die außenpolitische Gesamtkonstellation für Österreich-Ungarn noch ziemlich günstig, weil Italien und Rumänien Bündnispartner des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns waren, ebenso Serbien und Bulgarien. Außerdem bestanden dynastische Beziehungen durch deutschstämmige Dynastien auf den Thronen Rumäniens, Griechenlands und Bulgariens. Diese Lage veränderte sich jedoch nach dem Rücktritt Bismarcks 1890. Einen scharfen Einschnitt bildete das 1892 geschlossene französisch-russische Bündnis. Nachdem angesichts der Aufrüstung des Deutschen Reiches Frankreich und später auch Großbritannien immer stärker mit Russland zusammenarbeiteten (Abkommen von 1904 und 1907), blieb für Österreich-Ungarn nur noch die Option einer Vertiefung des Bündnisses mit dem Deutschen Reich, wobei allerdings immer mehr der Eindruck entstand, es sei nur mehr ein Satellit des mächtigeren Partners im Westen. Angesichts dieser Unsicherheiten schloss seit Anfang des 20. Jahrhunderts niemand mehr einen Krieg aus, was zahlreiche Entwicklungen in der Wirtschaft und im Heereswesen zur Folge hatte. Oft nicht durchdachte oder verfehlte diplomatische Manöver, eine unrühmliche Haltung des Offizierskorps („Wenn es schon zum Krieg kommt, dann möglichst bald“) sowie die Zunahme der Nationalismen führten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem immer angespannteren Klima.
Neben die außenpolitische Unsicherheit traten innere Probleme. Kaiser und König Franz Joseph konnte seine Herrschaft zwar stabilisieren; die notwendige innere Reform und Modernisierung des Gesamtstaates blieb jedoch aus, und mit der Begünstigung der Ungarn durch das System des Dualismus (seit dem Ausgleich von 1867) wurden andere Teile der Monarchie benachteiligt und immer ungeduldiger. Somit stellten die nationalen Bestrebungen sowohl in der Gesamtmonarchie als auch innerhalb der ungarischen Reichshälfte das größte Problem dar. Während jedoch in der österreichischen Reichshälfte erste Fortschritte zu verzeichnen waren (mährischer Ausgleich von 1905 und Programm des Trialismus, d. h. Bemühungen um Gleichberechtigung der slawischen Völker innerhalb der Doppelmonarchie), war Ungarn – abgesehen vom ungarisch-kroatischen Ausgleich (1868)1 – immer mehr auf Nationalisierung und Madjarisierung der ungarischen Reichshälfte bedacht. So lange diese Prozesse nicht abgeschlossen waren oder zumindest keine bedeutende zahlenmäßige Mehrheit der Ungarn vorhanden war (letzte Volkszählung vor dem Krieg im Jahr 1910: Anteil der Ungarn 54 Prozent), wagte man in der ungarischen Reichshälfte auch keine Demokratisierung.
Die wirtschaftliche Entwicklung war hingegen beachtlich. Der Binnenmarkt der Monarchie bot genügend Absatzmöglichkeiten für die wirtschaftlich sehr unterschiedlich geprägten Provinzen. Es entstand eine entwickelte Infrastruktur mit einem dichten Eisenbahnnetz, und jede Stadt gewann ihren bis heute sichtbaren Charakter während dieser Zeit. Ging es um das Kulturerbe, um Architektur, Kaffeehauskultur und vieles andere, hatte die Monarchie ein anziehendes Flair.
Krieg in Sicht
Nachdem 1907 die Allianz der Entente (aus Frankreich, Russland und Großbritannien) im Gegenzug zum Bündnis zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn (und Italien) entstanden war und somit zwei Blöcke gegenüberstanden, war zunächst noch unklar, wie sich die kleineren Länder verhalten würden. Für die Monarchie bereitete Serbien immer mehr Probleme, denn dort sah man die Zeit gekommen, um großserbisch-südslawische Pläne zu verwirklichen. Die so genannte Annexionskrise von 1908 warf ein deutliches Schlaglicht auf die explosive Gesamtlage. Zwar waren viele Bürger in Österreich-Ungarn damit einverstanden, dass nach der Einführung von Einfuhrzöllen gegen Serbien die Annexion von Bosnien und Herzegowina ein weiterer Schritt zur Abschreckung Serbiens bedeutete; wegen der ablehnenden Haltung Ungarns war es jedoch nicht möglich, aus den Gebieten Krain und Dalmatien (zur österreichischen Reichshälfte gehörend), Kroatien (zur ungarischen Reichshälfte gehörend) und dem annektierten Gebiet Bosnien und Herzegowina die Grundlagen für einen Trialismus anstelle des bisherigen dualistischen Staatsaufbaus zu legen, durch den die serbischen Einigungsziele hätten neutralisiert werden können. So waren um 1910 die Slowenen und Kroaten in Österreich-Ungarn enttäuscht, Serbien und Russland beleidigt. Noch beugten sich letztere, doch gegenseitige Abneigung und Misstrauen ließen sich nicht mehr beseitigen.
Doch auch in der Junikrise von 1914, als serbische Nationalisten den Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin während eines gegen Serbien gerichteten militärischen Manövers in Sarajevo ermordeten, wollten Herrscher und Politiker mehrheitlich sowohl in Wien als auch in Budapest keinen Krieg, noch weniger einen Eroberungskrieg – man war sich angesichts der Probleme bei der Annexion von Bosnien und Herzegowina 1908 der Zerbrechlichkeit der Monarchie bewusst. In Ungarn sah vor allem Ministerpräsident István Tisza ganz deutlich, dass ein Krieg das Land sowohl im Falle eines russischen als auch eines serbischen Angriffs sofort treffen würde, denn ein beträchtlicher Teil der von Serbien anvisierten südslawischen Gebiete der Monarchie gehörten zu Ungarn.
Die Notwendigkeit einer Bestrafung Serbiens wurde jedoch in Ungarn weitgehend akzeptiert. Auf der einen Seite war die ungarische politische Elite leider unfähig, eine markante eigene ungarische außenpolitische Vision zu entwickeln; eine trialistische Umgestaltung des Reiches scheute sie mehr als einen möglichen Krieg. Auf der anderen Seite verließ man sich auf die Kraft des Deutschen Reiches nach dem Motto: Wenn es doch zum Krieg kommen sollte, würde Berlin es meistern. Diese ambivalente Einstellung der ungarischen Politiker war auch Kaiser und König Franz Joseph bewusst, der den Krieg als eine durchaus reale Gefahr ansah und im geheimen „U-Plan“ nötigenfalls auch eine Besetzung von Teilen Ungarns in Kauf nahm.
Kriegsziele: Das Ringen zwischen Militärführung und Ministerpräsident Tisza
Wenn schon ein Krieg bevorstand, formulierte man in Ungarn auch Kriegsziele, wobei es diesbezüglich allerdings ebenfalls keine Einigkeit gab. Immerhin deklarierte man im Sommer 1914, die Monarchie wünsche keinen Eroberungskrieg. Sollte es zu einem Krieg gegen Serbien kommen, wäre dessen Annexion nicht geplant; allenfalls kleinere strategische Grenzänderungen wurden in Aussicht gestellt. Diese Logik entsprach vollkommen der ungarischen Argumentation, die durch Anschluss weiterer nichtungarischer Gebiete die endlich erreichte Mehrheit der Ungarn in der ungarischen Reichshälfte und deren weiteren Ausbau durch Assimilierung nicht gefährden wollte; auf der Ebene der Gesamtmonarchie wäre aber mit der zahlenmäßigen Erhöhung der slawischen Bevölkerung eine trialistische Föderalisierung nicht zu vermeiden gewesen. Der ungarische Ministerpräsident Tisza hoffte außerdem, einen möglichen Krieg auf eine Auseinandersetzung mit Serbien zu beschränken und zugleich eine Einmischung Russlands zu verhindern – was sich jedoch als völlige Fehleinschätzung herausstellen sollte, weil Russland auf jeden Fall zum Eingreifen entschlossen war.
Tisza wollte Serbien als Störfaktor außerdem auch mit friedlichen Mitteln (Krediten, Investitionen, Verträgen) zügeln und damit dessen enge Bindung an Russland lockern, wozu in Belgrad im Juli 1914 möglicherweise sogar Bereitschaft vorhanden gewesen wäre. Tisza blieb jedoch alleine mit seiner Meinung, denn die führenden Militärs der Monarchie ließen alle glauben, die ausschließliche Lösung der serbischen Frage könnte nur ein Präventivkrieg sein, wobei der Generalstab von beträchtlichen Annexionen ausging.
In einem Memorandum an Franz Joseph legte Tisza dar, der Zeitpunkt für den Krieg wäre im Juli 1914 keinesfalls günstig, da sich die internationale Konstellation für die Monarchie ungünstig verändert hätte: Rumänien war als Verbündeter quasi verloren, Bulgarien von der letzten Niederlage im zweiten Balkankrieg noch nicht genesen; nicht zuletzt hielt er die Beweise bezüglich eines serbischen Hintergrundes für das Attentat in Sarajevo für fragwürdig. Wenn schon der Krieg als einzige Möglichkeit angesehen werde, sollte man die nötigen Vorbereitungen treffen und ein günstiges Timing finden – meinte er.
Tisza war sich bewusst, dass ein russischer Angriff auf Siebenbürgen schwer abzuwehren wäre, und auch sonst war ihm klar, dass Ungarn die ersten Schläge gegen die Monarchie auffangen müsste. Er lenkte jedoch gegenüber dem Generalstab ein, als man ihm versicherte, Deutschland würde auf Rumänien und Bulgarien einwirken und beide Länder als Verbündete gewinnen.
Kriegsstimmung?
Nachdem es klar wurde, dass gegen Serbien Krieg geführt werden würde, stellten sich alle politischen Kräfte dahinter, auch die, die zuvor diese Lösung ablehnten, so auch die Sozialdemokraten. Selbst der anglophile Albert Apponyi, früherer und künftiger Kultusminister, wies den Friedensappell des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson zurück.
Die im Allgemeinen nicht gut informierten Massen der Bevölkerung, die das Schüren der Kriegsgefahr in der Presse nicht verfolgten, dachten gar nicht daran, dass es zum Krieg kommen könnte. Das Attentat auf das Thronfolgerpaar löste zwar Bestürzung aus; laute Proteste und Kundgebungen wie in Wien,
Zagreb oder in Bosnien blieben jedoch in Budapest aus. Die Presse – insbesondere die Regierungszeitungen und rechten Blätter – begannen aber sofort, die Stimmung zu beeinflussen, drohende Stimmen waren bald zu hören, auch die Kriegserklärung an Serbien wurde begrüßt.
Somit konnte von einer allgemeinen Kriegsbegeisterung überhaupt nicht die Rede sein. Vor allem die oberen Schichten hofften auf einen schnellen Krieg, während Bauern und Arbeiter resigniert zuschauten. Einige der nichtungarischen Völker wie die Serben, Ruthenen und Rumänen verhielten sich ambivalent und äußerten sich oft kritisch, was jedoch nicht bedeutete, dass sie insgesamt illoyal gegenüber Ungarn und der Gesamtmonarchie wurden.
Der letzte Krieg des alten Ungarn
Die unzureichenden Kriegsplanungen zeigten sich binnen kürzester Zeit. Während Deutschland unfähig war, die französischen und britischen Kräfte in einem Blitzkrieg zu besiegen, war die Doppelmonarchie nicht imstande, Serbien und Russland zur gleichen Zeit zu bezwingen. Von den 1,8 Millionen Soldaten, die zu Beginn des Krieges kampfbereit waren, war bereits nach wenigen Wochen eine Million nicht mehr einsatzfähig – entweder waren diese Soldaten in Gefangenschaft geraten, verwundet oder gefallen. Dieses Desaster konnte Österreich-Ungarn nie mehr verschmerzen.
Nachdem es rasch klar wurde, dass der Krieg länger als erwartet dauern würde, waren die kriegsführenden Parteien dazu gezwungen, neue Verbündete zu gewinnen. Der Beitritt Italiens (1915) und Rumäniens (1916) auf der Seite der Entente hatte unmittelbare Auswirkungen auch auf Ungarn, weil sowohl in Norditalien als auch in Siebenbürgen neue Fronten entstanden. Die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn gewannen mit Bulgarien und dem Osmanischen Reich neue Verbündete, wodurch Serbien endlich bezwungen werden konnte. Die Russen wurden zurückgeschlagen, die Rumänen aus Siebenbürgen vertrieben. An der italienischen Front hingegen gelang kein entscheidender Durchbruch.
Ende 1917 schien es nach dem Ausscheiden Russlands aus dem Kriegsgeschehen für die Mittelmächte zwar durchaus möglich zu sein, den Krieg noch zu gewinnen, doch nachdem die USA an der Seite der Entente in den Krieg eingetreten war und diese Hilfe ab dem Frühjahr 1918 Wirkung zeigte, brachen die Fronten nacheinander zusammen. Nach dem „Schwarzen Tag von Amiens“ (8. August), der den Zusammenbruch der Westfront und damit die Niederlage Deutschlands einläutete, kapitulierten im September die Bulgaren, im Oktober die Osmanen. Am 17. Oktober 1918 verkündete Ministerpräsident Tisza im ungarischen Parlament: „Wir haben den Krieg verloren.“
Während des Ersten Weltkriegs schickte Österreich-Ungarn 9 Millionen Menschen in die Schlacht, davon 3,4 Millionen Ungarn (mit Kroatien). Insgesamt 1,1 Millionen sind gefallen, 3,6 Millionen wurden verwundet, 2 Millionen gerieten in Gefangenschaft. Ungefähr die Hälfte stammte aus Ungarn, sodass die Verluste die ungarische Reichshälfte überproportional betrafen.
Zu den auch bereits während des Krieges eingetretenen unmittelbaren Menschenverlusten kamen die Kriegsfolgen im Hinterland hinzu, die, vergleichbar mit der Situation in anderen Ländern, auch in Ungarn kriegswirtschaftliche Zustände, Versorgungsengpässe, Inflation und Lohnsenkungen auslösten; insgesamt war also ein starker Einbruch des Lebensniveaus zu verbuchen. So wandelten sich die nach dem Ausbruch des Krieges langsam anbahnende Zuversicht und Begeisterung bereits 1915-1916 in Kriegsmüdigkeit, Unsicherheit und Erbitterung. Ab 1917 gab es immer mehr Befehlsverweigerungen, Fahnenflucht, Demonstrationen, Plünderungen, Streiks usw.
In Ungarn waren jedoch auch andere Kriegssymptome zu verzeichnen. Der Krieg aktivierte nämlich die nichtungarischen Eliten; ihre neugefassten Pläne betrafen sowohl die Gesamtmonarchie als auch Ungarn. Als im Mai 1917 der neue Herrscher Kaiser Karl I. (als ungarischer König Karl IV.) das österreichische Parlament einberief, forderten die dort erschienenen tschechischen, ukrainischen und südslawischen Abgeordneten die Föderalisierung des Reiches. Kroatien sollte diesen Vorstellungen zufolge vom Königreich Ungarn abgetrennt und Basis für eine südslawische föderative Einheit innerhalb der Monarchie werden, während sich die Tschechen ein ähnliches Modell mit den in Ungarn lebenden Slowaken vorstellten. Doch die serbische Führung in Belgrad sowie die tschechischen Emigranten in Paris visierten bereits von der Doppelmonarchie unabhängige Lösungen an, mit einem von Belgrad aus geführten serbisch-kroatisch-slowenischen Staat und einer mit der Karpato-Ukraine ergänzten Tschechoslowakei. Etwas später etablierte sich der „Nationalrat der Rumänischen Einheit“ in Paris mit dem Ziel, die beim Kriegseintritt Rumäniens an der Seite der Alliierten im August 1916 versprochenen Gebiete (Siebenbürgen, Partium, Banat)2 für Rumänien zu sichern.
Anfang 1918 vertraten die Entente-Mächte die Position, dass zwar die „rechtmäßigen“ Ansprüche ihrer Verbündeten zu befriedigen wären, doch Österreich-Ungarn müsste als Ordnungsmacht Südosteuropas erhalten bleiben, um deutsche Ambitionen zu bremsen. Die „14 Punkte“ des amerikanischen Präsidenten Wilson stellten folgerichtig nur umfangreiche Autonomien für die einzelnen Völker der Monarchie in Aussicht.3 Da jedoch die Friedensinitiativen König Karls IV. fehlschlugen und der Einfluss des Deutschen Reiches auf Österreich-Ungarn 1917/1918 noch zunahm, wurde deutlich, dass die Doppelmonarchie nicht imstande sein würde, jene ausgleichende Rolle gegenüber Deutschland zu spielen, die die Entente-Mächte von ihr erwarteten.
So fassten die kommenden Sieger im Frühling 1918 endgültig die Entscheidung zur Auflösung der Monarchie. Ein erstes Signal war der im April 1918 in Rom veranstaltete Kongress der emigrierten Nationalitätenführer, dessen Schlussakte die Schaffung der nationalen und politischen Einheit der einzelnen Völker sowie ihre völlige politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit vorsah. Damit kam die Ankündigung von Kaiser und König Karl über die Föderalisierung der Monarchie im Oktober 1918 zu spät. Präsident Wilson erkannte in einer kurz darauf herausgegebenen Note die Selbstständigkeit der Völker der Monarchie an, woraufhin die neu etablierten Nationalräte die Loslösung von Ungarn deklarierten. In Budapest übernahm während der „Asternrevolution“4 im Oktober ein ungarischer Nationalrat, in dem die früheren Oppositionsparteien vertreten waren, die Macht.
Die Konturen des Desasters nehmen Gestalt an – das Trauma von Trianon
Da die Grenzen des künftigen Ungarn durch die Entente-Demarkationslinien nach dem Waffenstillstand zu erahnen waren, bestand unter sämtlichen politischen Kräften Ungarns Einigkeit darüber, die territoriale Integrität des Landes mit allen Mitteln zu erhalten. Sie versuchten, dies durch das Versprechen einer liberalen Minderheitenpolitik, großzügiger Autonomiegesetze sowie eines modernen Wahlrechts zu erreichen – alle Maßnahmen wurden jedoch als verspätet empfunden und konnten die nichtungarischen Minderheiten nicht mehr umstimmen. Selbst in dieser kritischen Phase traten jedoch alte Gewohnheiten in der Behandlung der nichtungarischen Völker wieder in Erscheinung, und unausgesprochen galt weiterhin der Primat der ungarischen Nation. In der Phase der Räterepublik in Budapest (März - August 1919) kehrte man dann zu der altbekannten Volkstumspolitik zurück, und selbst die Rede des Leiters der ungarischen Friedensdelegation in Paris, Graf Albert Apponyi, spiegelte die alten Ansichten wider. So war die Katastrophe nicht zu verhindern: Ungarn verlor im Vertrag von Trianon (4. Juni 1920) zwei Drittel seines Territoriums und 58 Prozent seiner Bevölkerung.
Man war in Ungarn nicht bereit und ist es teilweise bis heute nicht, die eigene Verantwortung für diese Entwicklung zu erkennen. So wurde die Volkstumspolitik der Zwischenkriegszeit von zwei Aspekten bestimmt: auf der einen Seite von der Nichtanerkennung bzw. dem Versuch einer Revision des Friedensvertrages von Trianon sowie auf der anderen Seite von der Vermeidung eines zweiten Trianon durch eine weitere Homogenisierung des Landes (1920 betrug der Anteil der ethnischen Ungarn 89 Prozent).
Allerdings muss man auch betonen, dass angesichts des starken Nationalismus unter den Völkern der Monarchie der Zerfall des historischen Ungarn selbst mit einer entgegenkommenden Volkstumspolitik gegenüber den nichtungarischen Völkern wohl nicht zu verhindern gewesen wäre. Die ungarische Politik sah im 19. Jahrhundert jedoch als adäquate Vorbeugungsmethode gegen Abspaltungstendenzen nicht die Berücksichtigung der Wünsche der Nationalitäten vor, sondern deren Assimilierung. Nicht freizusprechen von einer Mitschuld sind auch die „Peacemaker“, die – als Gefangene ihrer eigenen Versprechungen während des Krieges und ihrer machtpolitischen Ambitionen – keinen Frieden zu schaffen vermochten und letztlich Millionen von Ungarn in eine Minderheitenexistenz in den Nachbarstaaten zwangen.
Das neue Ungarn („Rumpfungarn“) und seine Bevölkerung mussten sich 1920 neu definieren. Indem „Trianon“ bis heute Bezugspunkt der neuen Identität wurde, konstituierte sich dieses Selbstverständnis auch aus alten Elementen, wonach Ungarn trotz des Verlustes seiner historischen Gebiete durch seine kulturelle Überlegenheit und mit seiner tausendjährigen Staatlichkeit weiterhin die Rolle der Ordnungsmacht in Südosteuropa und insbesondere im pannonischen Becken, spielen kann und spielen wird.
Dieser Gedanke verblasste zwar ab und zu, ist aber bis heute virulent.
Fußnoten
- Die erwähnten Ausgleichsbemühungen liefen letztlich auf die rechtliche Gleichstellung slawischer Bevölkerungsteile in den beiden Reichshälften Österreich-Ungarns hinaus. Im Fall von Mähren ging es um die Verbesserung der Lage der tschechischen Mehrheit gegenüber der (privilegierten) deutschen Minderheit, bei Kroatien um die Wiederherstellung einer inneren Autonomie Kroatiens im Rahmen der ungarischen Monarchie. Beide Entwicklungen führten allerdings nicht zu einer Beruhigung der nationalen Konflikte.
- Partium (abgekürzt für „partium regni Hungariae“, d. h. „von Teilen des Königreichs Ungarn“), bezeichnet Teile des alten Königreichs Ungarn östlich des Flusses Theiß, die seit dem 16. Jahrhundert unter die Herrschaft siebenbürgischer Fürsten kamen. Seit den Friedensschlüssen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gehören diese Gebiete (mit Städten wie Satu Mare und Oradea) größtenteils zu Rumänien, zum kleineren Teil zum heutigen Ungarn.
- Präsident Woodrow Wilson verkündete die „14 Punkte“ in seiner Neujahrsbotschaft vom 8. Januar 1918 (Text z. B. unter www.mitteleuropa.de). Punkt 10 lautete „Autonome Entwicklung der Völker Österreich-Ungarns.“
- Benannt nach den Astern, die die Soldaten anstelle der österreich-ungarischen Embleme Ende Oktober 1918 an ihren Mützen trugen.