Erinnerung, Versöhnung, Hoffnung: Stimmen aus Osteuropa und Deutschland
Als katholisches Hilfswerk für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas ist es Renovabis ein Anliegen, sich für Erinnerung und Versöhnung einzusetzen. Heute mehr denn je müssen wir unser Bewusstsein schärfen für die historische Verantwortung an dem Unrecht und den Verbrechen, die während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen begangen wurden. Nun jährt sich am 22. Juni zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Dieser Angriff führte zum Tod von über 25 Millionen Menschen der Völker der Sowjetunion.
Wir haben Menschen aus Gebieten zu Wort kommen lassen, die damals zur Sowjetunion gehörten oder von der Sowjetunion besetzt waren. Wir haben sie gebeten, uns zu schildern, wie der Gedenktag heutzutage wahrgenommen wird und welche Perspektiven es für Versöhnung gibt – insbesondere aus christlicher Sicht.
Pater Aleh Shenda OFMCap, Belarus
Pater Aleh Shenda ist Pfarrer in Minsk, Belarus
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich darauf hinweisen, dass ich fast 40 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, und die Tatsache, dass in dem Land, in dem ich lebe, bis heute den Kult des „Sieges“ als ein wesentliches Element der Staatsideologie künstlich gepflegt wird. Trotz der Tatsache, dass dieser Krieg in meiner eigenen Familie dramatischen Schaden angerichtet hat und einigen Verwandte sogar ihr Leben verloren haben, nehme ich persönlich die beiden Seiten des Krieges wahr, und sehe die Verantwortung der beiden Seiten für all das, was in diesem Krieg geschehen ist. Die Dynamik der Entwicklung und die Rivalität zwischen den beiden unmenschlichen totalitären Systemen war die Ursache für einen schrecklichen Krieg und das grenzenlose Leiden von Millionen von Menschen, darunter auch Zivilisten. Nach meiner Erfahrung ist es nicht so, dass der Großteil der Menschen in Belarus die Schuld an dem Krieg nur bei der Seite sehen, die die Aggression initiiert hat.
Zahlreiche Zeitzeugen dieses Kriegs, die ich persönlich gekannt habe, bezeugen, dass die Verantwortlichen von beide Seiten ein ungeheures Leiden verursacht haben. Sie erzählen aber auch über Soldaten von beiden Seiten, die in manchen Situationen auch eine heldenhafte Menschlichkeit gezeigt haben.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Nach meinem Eindruck, sind die Deutschen einen mühsamen, achtzigjährigen Weg des Erkennens der Ursachen der tragischen Ereignisse und auch der Anerkennung der eigenen Verantwortung, gegangen. Leider sehe ich in den Gesellschaften der ehemaligen Sowjetrepubliken, insbesondere in Belarus, nicht den geringsten Versuch die eigene Verantwortung für das Böse dieses Krieges anzuerkennen, und Reue dafür zu zeigen. Das Gegenteil ist der Fall, Lügen, Terror und Aggression bleiben Teil des Lebens unserer Gesellschaft. Die Reue für die Verbrechen unserer Vorfahren wäre aber ein notwendiger Schritt, um einen dauerhaften Frieden und eine nachhaltige Entwicklung in unserer Gesellschaft zu erreichen.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Als Sohn von Belarus sehe ich meine Heimat als östlichen Teil der westeuropäischen Zivilisation. Eine Reihe von Ereignissen hat dazu geführt, dass die Ostgrenze der Europäischen Union heute zu einem künstlichen "Eisernen Vorhang" zwischen Ost und West geworden ist, eine Linie der Spannungen und der Konfrontationen. Die letzten Jahrzehnte, die relativ friedlich waren, scheinen, nach meinem Empfinden, verloren zu sein, da wir sie nicht für einen aktiveren Dialog, für mehr Offenheit genutzt haben, und sich so mehr Menschen hätten in die Augen schauen können. Ich glaube, dass der sicherste Weg, Spannungen zu lösen, eine einfache Begegnung, ein persönlicher Kontakt und ein offenes Herz sind.
Inara Uzolina, Lettland
Inara Uzolina ist Präsidentin des Lettischen Katholischen Frauenbundes
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Am 22. Juni 1941 war Lettland schon seit einem Jahr ein von Sowjetunion okkupiertes Land. In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni 1941 wurden mehr als 15.400 Einwohner Lettlands (auch kleine Kinder, schwangere Frauen, alte Menschen), die dem sowjetischem System nicht passten, nach Sibirien zur Zwangsarbeit deportiert. Für die Bürger Lettlands begann der Krieg im Jahr 1940 ... und endete 1990. Fünfzig Jahre lang waren wir ein okkupiertes Land und gehörten zur Sowjetunion. In dieser Zeit wurden alle sowjetischen Feiertage gefeiert. Auch der 22. Juni wurde immer als Gedenktag mit verschiedenen Filmen über den Großen Vaterländischen Krieg und mit anderen Veranstaltungen begangen. Seit der wieder gewonnenen Unabhängigkeit hat dieser Tag auf der staatliche Ebene keine Bedeutung mehr.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Letten wurden in die sowjetische und in die faschistische Armee einberufen. Unter zwei Flaggen mussten Letten gegen Letten kämpfen... Ich glaube, dass die Versöhnung aus menschlicher Haltung heraus möglich ist. Die Vergebung und Versöhnung sind ein wichtiges Thema nicht nur im Christentum, sondern in der ganzen Gesellschaft. Aber erst wenn man politische Ereignisse von einzelnen Menschen und Nationalitäten trennen kann, dann gelingt es, Menschen nicht mehr ins Kriegsgegner und Kriegsbefürworter zu unterteilen. Dann beginnt man jeden Menschen als Opfer des Systems zu sehen und nicht als den Gegner. Alle im Krieg Beteiligten leiden. Und wenn wir das der nächsten Generationen beibringen können, werden wir den Frieden und die Verantwortung dafür stärken. Für Letten war es ein langer Prozess, der noch nicht ganz abgeschlossen ist, die aus Russlands stammenden Mitmenschen nicht als Okkupanten anzusehen. Nur für Versöhnung offene Herzen und menschliches Miteinander im Alltag können diese Vorurteile auflösen ...
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Für die junge Generation verschwinden die Grenzen. Sie teilen die Welt nicht mehr in Ost und West, sie fühlen sich überall zuhause, sie sind echte Europäer. Ich erlebe nur positive Beispiele hier in Lettland für die Ost-West Beziehungen.
Mit jedem Jahr wird diese Kooperation immer konstruktiver, weil wir beiderseits einander gut ergänzen können. Wir als christliche osteuropäische Frauenorganisation haben zum Beispiel sehr gute Erfahrungen mit der Zusammenarbeit mit anderen westlichen christlichen Frauenorganisationen gemacht, auch wenn wir verschiedene historische Hintergründe haben.
Bischof Bohdan Dzyurakh CSsR, Ukraine
Exarch der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche für Deutschland und Skandinavien in Deutschland (München)
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Die Erinnerung bezieht sich vor allem auf die betroffenen Menschen. Es geht darum, jeden einzelnen Opfers dieses schrecklichen Krieges zu gedenken. Jede Person, die Menschlichkeit in der unmenschlichen Zeit gelebt hat, gilt es zu ehren. Und: Die Täter dieses Übels müssen beim Namen genannt werden. Die Würde vieler einzelner Menschen und der gesamten Menschheit wurde durch Verbrechen des Krieges angegriffen. Durch die betende und verantwortliche Erinnerung wird sie wiederhergestellt.
Eine sehr wichtige Aufgabe besteht darin, die ganze Wahrheit über die Umstände und die Ursachen des Krieges zu entdecken und anzunehmen. Es ist ja bekannt, dass die Wahrheit sehr oft zum ersten Opfer des Krieges gemacht wird. Deshalb wurde in der Ukraine gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion ein mühsamer Prozess der Reinigung der historischen Erinnerung begonnen, der längst noch nicht zu Ende ist. Es geht vor allem um die Entdeckung und um die Wahrnehmung der vollen Wahrheit, was den Beginn und die Ursachen des Zweiten Weltkrieges angeht.
Und es geht auch um die Beseitigung der zahlreichen Geschichtsfälschungen, die von der sowjetischen Propaganda jahrzehntelang sowohl innerhalb des sowjetischen Staates als auch im Ausland sehr systematisch verbreitet worden sind. In diesem Zusammenhang wird in der unabhängigen Ukraine immer mehr vom „Zweiten Weltkrieg“ gesprochen, dem Begriff, der einen viel breiteren Zeitraum umfasst als nur der vom sowjetischen Regime benutzte Begriff des „Großen Vaterländischen Kriegs“, der sich auf das Datum von 22. Juni 1941 bezieht. Es bleibt für viele damalige Anhänger und heutige Sympathisanten des stalinistischen Systems eine sehr unangenehme historische Tatsache zu erfahren oder zu entdecken, dass nicht nur das Nazi-Regime für den Beginn des Zweiten Weltkrieges verantwortlich ist, sondern auch der stalinistische sowjetische Staat. Der Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939, auch als Hitler-Stalin-Pakt bekannt, mit seinem geheimen Zusatzprotokoll ist das entscheidende historische Zeugnis dafür. Nicht umsonst sagen manche bei uns in der Ukraine, dass der Nürnberger Prozess die Verlierer bestraft hat, nicht aber alle Schuldigen und Verantwortlichen für diese ungeheure Tragödie der gesamten Menschheit im vergangenen Jahrhundert.
Bedauernswerterweise bleiben noch viele Menschen auch heute gefangen in ideologischen Klischees weiterhin andauernder Propaganda. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass während in ganz Europa die Menschen guten Willens im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg sagen „Nie wieder!“, in einem anderem Land, das sich des Status des Siegers rühmt, auch ein anderer Slogan öfter wiederholt wird: „‘Mozhem powtorit‘ – Wir können es wiederholen!“. Das ist ein sehr beunruhigendes Beispiel einer von Ideologie geprägten und vergifteten Erinnerung, die eher neuen Schaden als die Heilung der alten Wunden bringt. Jesus sagt im Evangelium: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8, 32). Deshalb denke ich, dass sowohl in den postsowjetischen Ländern als auch in ganz Europa noch sehr viel zu tun bleibt, um zur vollen Wahrheit zu gelangen und zur endgültigen Befreiung der vom Zweiten Weltkrieg betroffenen Völker und Ländern Europas beizutragen.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Lassen Sie mich auf zwei Tatsachen hinweisen: Erstens gilt als Voraussetzung für jede Versöhnung die entsprechende Bereitschaft aller Beteiligten an dem blutigen Konflikt: Die Täter und Verursacher müssen sich zu ihrer Schuld bekennen und Verantwortung gegenüber den Menschen und den Völkern übernehmen. Zweitens: Die Opfer müssen sich zu einem mutigen Akt der Verzeihung und der Barmherzigkeit entschieden, um sich von den schrecklichen Erlebnissen zu befreien und einen neuen Anfang zu wagen. Hier gelten die Worte von Papst Johannes Paul II.: „Kein Friede ohne Gerechtigkeit, keine Gerechtigkeit ohne Vergebung“.
Außerdem, wenn man an den deutschen Angriff auf die Sowjetunion denkt, muss auch immer wieder erinnert werden, dass kein abstraktes „sowjetisches Volk“ zum Opfer des Zweiten Weltkrieges wurde, das nur in den Köpfen der damaligen kommunistischen Ideologen existierte. Es waren ebenso wenig ein „sowjetisches Volk“ oder die Vertreter eines Staates, die sich zu Nachfolgen der Sowjetunion erklärt haben, sondern es geht um ganz konkrete und zahlreiche Nationen und Völker, die gegenwärtig eigenen unabhängigen Staaten zugehören und aus dem Prozess der Versöhnung nicht ausgeschlossen werden dürfen. Anderenfalls wird diesen Völkern neues Unrecht zugefügt, diesmal auf der Ebene der historischen Wahrheit, der nationalen Identität und der menschlichen Würde.
Europa hat es dringend nötig, dem Prozess der Versöhnung neuen Impact und neuen Schwung zu verleihen. Dies wird aber nur dann möglich, wenn ein bilateraler Dialog in der Wahrheit und in der gegenseitigen Wertschätzung zwischen den Völkern und der Staaten initiiert und vorangetragen wird. Sonst werden die Bemühungen um die Versöhnung in Europa vergeblich und fruchtlos bleiben.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Halbwahrheiten und populistische Methoden des politischen und des gesellschaftlichen Handels werden immer die Spannungen und die Auseinandersetzungen zur Folge haben. Andererseits sehe ich mit Bedauern, wie leicht sich viele Menschen von den skrupellosen Politikern manipulieren und von den oberflächigen Medien einschläfern lassen. Ein weiterer Teil der Gesellschaft distanziert sich bewusst von den schwierigen Themen der Vergangenheit und der Gegenwart, um sich komplett vom Prinzip „carpe diem“ leiten zu lassen und die knappe Lebenszeit bedenkenlos zu genießen. In einer solchen Welt, wo Desinteresse, Gleichgültigkeit und allgemeine Apathie herrschen, wird nur dann neue Hoffnung erscheinen, wenn die spirituellen Werte wie Mitleid und Barmherzigkeit, Solidarität mit den Armen und Gerechtigkeit gegenüber den Unterdrückten ihren zentralen Platz im Denken und im Handeln der Menschen wieder gewinnen werden.
Letztendlich vereinen wir als gläubige Menschen unsere Hoffnung nicht mit den politischen Entscheidungen, sozialen Initiativen oder wirtschaftlichen Reformen. Unsere Hoffnung ruht auf der göttlichen Offenbarung und Verheißung, dass auch in Zeiten allgemeiner Verwirrung das Licht der Wahrheit und die Kraft der Liebe stärker bleiben als alle Anstrengungen den Menschen und Strukturen, die vom Egoismus, vom Hass und von der Gewalt geprägt sind. Unsere Hoffnung setzen wir auf Gott, der die notwendige Veränderung der Herzen, Gewohnheiten und Lebensstile (Papst Franziskus, Fratelli tutti, 166) durchführen und dadurch der Menschheit von heute eine neue Perspektive und neue Hoffnung verleihen vermag – weil nur das Herz, das vom Licht der Wahrheit und vom Geist der Liebe sich verwandeln lässt, Träger der Hoffnung und der Freude sein wird.
Oleh Turiy, Ukraine
Prof. Dr. Turiy ist Professor für Kirchengeschichte an der Ukrainischen Katholischen Universität (UCU) in Lviv.
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Die Ukraine durchlebt seit 2013 eine politisch komplizierte Zeit, die sich zweifelsohne auf die Erinnerungskultur auswirkt. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, der in der sowjetisch geformten Interpretation als der „Große Vaterländische Krieg“ bezeichnet wird, wurde im ukrainischen Staat seit 1991 einerseits von der sowjetischen Lesart des Krieges und andererseits von der Suche nach eigener Interpretation und eigenen Formen des Gedenkens geprägt. Vereinfacht gesagt, beging ein Teil des Landes (bzw. der Gesellschaft) am 9. Mai jedes Jahres den Tag des großen Sieges über NS-Deutschland und feierte die Heldentaten der Roten Armee. Ein anderer Teil gedachte dagegen der Freiheitskämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit, vor allem der Mitglieder der Ukrainischen Aufständischen Armee (ukr. UPA). Beim Erinnern an den Krieg setzte man dementsprechend unterschiedliche Akzente, die sehr stark ideologisch beeinflusst waren. Eine selbstkritische Betrachtung der Kriegsperiode war fehl am Platz und eine ausgewogene Erinnerungsform bzw. Erinnerungskultur konnten sich kaum durchsetzen. Der primäre Grund dafür bestand darin, dass die Politik Erinnerung an den Krieg und die noch offenen und umstrittenen Fragen aus jener Periode für eigene Zwecke (innerhalb und außerhalb der Ukraine) missbrauchte.
Die Situation hat sich nach meiner Beobachtung in den letzten Jahren etwas geändert, vor allem haben sich die Akzente verschoben. Nach der Annexion der Krim durch Russland und dem Ausbruch des Krieges im Osten der Ukraine ist zu beobachten, dass die ukrainische Gesellschaft sich immer deutlicher von der russischen Lesart der Geschichte des Krieges verabschieden will. Im Gegensatz zu Russland, in dem seit dem Beginn der Epoche des Präsidenten Vladimir Putin gerade das sowjetische Narrativ des “siegreiches Volkes“ in der staatlichen Erinnerungspolitik wieder verstärkt in den Mittelpunkt gestellt wird, spricht man in der Ukraine vor allem über den Zweiten Weltkrieg. Deshalb steht bei den Erinnerungsfeiern das Datum 22. Juni 1941 nicht so sehr im Vordergrund, sondern der Ausbruch des Krieges im September 1939, an dem auch der sowjetische Staat massiv beteiligt war und davon profitierte. Es darf nicht vergessen werden, dass die Menschen auf dem Territorium der heutigen Ukraine mit beiden Totalitarismen (Nationalsozialismus und Kommunismus) schlimme Erfahrungen machten, in deren Folge Millionen Opfer zu beklagen waren. Nur der Verbrechen von einem Totalitarismus zu erinnern und den anderen wegen seines Beitrages zum Sieg gegen den Nationalsozialismus zu verharmlosen oder gar zu rechtfertigen, scheint aus meiner Sicht der Komplexität des Erinnerns nicht gerecht zu werden. Deshalb wurde auch 2015 der 8. Mai als „Tag des Gedenkens und der Versöhnung“ eingeführt, an dem vor allem die Tragödie des Kreges im Mittelpunkt steht.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Ich denke, einer der wichtigsten Beiträge der Kirchen zur Versöhnung könnte darin bestehen, dass sie in ihrer Versöhnungsarbeit, entgegen der immer noch verbreiteten Propaganda und dem Missbrauch des Themas des Zweiten Weltkrieges durch die gegenwärtige Politik für Begründung eigener politischer Ziele oder Rechtfertigung politischer Handlungen, auf die Tragödie des Krieges, dessen verheerende Folgen und die Opfer hinweisen. Denn wir wissen selbst aus unserer eigenen Erfahrung, dass eine ausschließliche Feier der Helden und ihrer Taten sowie Verbreitung ihres Kultes oft die Gesellschaften und Völker spalten. Denn es gibt viele historische Persönlichkeiten, die in einem Land als Helden verehrt und in einem anderem für Verbrecher gehalten werden. Das Gedenken und das Erinnern an die Opfer können dagegen verbinden und Brücken bauen, denn sie führen uns viel stärker die Katastrophe eines Krieges und das Ausmaß des menschlichen Leidens vor Augen. Sie dürfen daher Versöhnungsansätze unterstützen und fördern.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Wir neigen oft dazu, unsere eigene Geschichte zu viktimisieren und ausschließlich uns selbst oder die eigene Nation als Opfer des Krieges zu sehen. Man muss aber keine Angst haben, auch über eigenes Versagen zu sprechen.
Die Christen und die Kirchen dürfen durch einen ehrlichen Umgang mit komplizierten Themen des Krieges dazu beitragen, viele Bereiche zu entmythisieren. Denn die wahre Freiheit besteht darin, den Mut zu haben, zuzugeben, dass auch ich – so schmerzlich es auch sein mag – Fehler mache und Mitverantwortung trage.
Noch bedeutender ist meiner Meinung nach, dass die Christen sich darum bemühen, die Geschichte von einfachen Menschen im Krieg zu erzählen. Wir lernen meistens den Verlauf des Krieges in größeren Zusammenhängen kennen. Unsere Kenntnisse über die Schicksale von einfachen Menschen sind sehr gering. Solche individuellen Erfahrungen und Erlebnisse des Krieges bleiben im Schatten. Ihre Geschichten, ihre persönlichen Erfahrungen müssen, so glaube ich, in das große Bild des Krieges eingeordnet werden. Solche Erfahrungen mit Hilfe von jungen Christinnen und Christen ans Licht zu bringen (vielleicht in Form von gemeinsamen Projekten und in einem lebendigen Austausch), wäre ein Hoffnungszeichen für die jetzige und künftige Generation und ein kirchlicher Beitrag zur Stärkung von Zusammenhalt und Zusammenarbeit in Europa.
Der Sieg im Zweiten Weltkrieg war wichtig. Aber nicht weniger wichtig bleibt die Aufgabe der Überwindung des Krieges selbst und des militaristischen, autoritären und neoimperialen Bewusstseins, das ihn erzeugt. Und für die Ukraine, die der gegenwärtigen Aggression und der Besetzung eines Teils des Territoriums zum Opfer fällt, geht es nicht nur um Geschichte und nicht nur um ein eigenes Land. Dies ist eine Aufgabe für alle Menschen guten Willens, für die ganze zivilisierte Welt, wenn sie in Frieden und Sicherheit leben wollen.
Evgeny Pilipenko, Russland
Dr. Evgeny Pilipenko lehrt am Kyrill-und-Method Postgraduierteninstitut des Moskauer Patriarchates und ist Mitarbeiter des Kirchlich-Wissenschaftlichen Zentrums „Orthodoxe Enzyklopädie“ in Moskau.
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Im neuen Russland ist dieses Ereignis offiziell zum „Tag der Erinnerung und der Trauer“ gemacht worden. Im Vergleich zum „Tag des Sieges“ am 9. Mai, der überwiegend dem Triumph der sowjetischen Waffen und der Freude über die sieggekrönte Beendigung des blutigen Vaterlandskrieges gewidmet ist, stehen am 22. Juni im Fokus eher die unzähligen Opfer und die Tragik der enormen Strapazen, die aufs ganze Volk zukamen. Die Russische Orthodoxe Kirche erinnert daran in den Trauergottesdiensten. Als einen Wandel in der Erinnerungskultur erlebe ich auch die Tatsache, dass an diesem Tag mehr das schreckliche Wesen des Krieges als solches reflektiert wird. Zugleich aber stellt man zur Diskussion die Frage nach den Fehlern und somit nach der Mitverantwortung der damaligen Innen- und Außenpolitik, die den nazistischen Militärangriff möglich machte.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Zur Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus kann das Lernen beitragen, im Anderen zuallererst den Menschen und Mitmenschen zu sehen, wie das Evangelium Christi verkündet. Es gilt nicht zu vergessen, dass Gott „der Retter aller Menschen“ ist (1 Tim 4,10) und dass wir unseren Schuldigern vergeben sollen. Die Schritte zur Versöhnung können leichter fallen, wenn man in aktueller Situation nicht immer zurück, sondern vielmehr nach vorn schaut mit dem festen Glauben an die gnädige Fähigkeit und Möglichkeit jedes Sünders zur Verbesserung, ja zur Verklärung unabhängig (obwohl nicht losgelöst) von seiner Nationalität, Weltanschauung und Geschichte.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Zu den Hoffnungszeichen in dieser Sicht gehört nach meiner Meinung die jüngere Generation der West- und Osteuropäer, für welche die Trennung in zwei Welten weitgehend entschärft wird. Diese Entschärfung geschieht in erster Linie auf tiefer mentaler Ebene trotz politischer Reibungen, Widersprüche, wirtschaftlicher Ungleichheit und etlichem propagandistischen Druck. Die jungen Leute fühlen sich verantwortlich für die bessere gemeinsame Zukunft, berufen zum Überwinden der begangenen Fehler ihrer Väter und Mütter. Das geht oft zusammen mit dem Verzicht auf traditionelle Formen der Lebensführung und der kirchlichen Religiosität, die sie als konditionelle Beschränkungen und institutionelle Trennungsfaktoren wahrnehmen.
Die Aufgabe der Kirchen ist einerseits, auf diese Tendenzen zu achten und daraus zu lernen; andererseits aber den Dialog mit der Jugend aufzubauen und zu versuchen, die Skepsis gegenüber dem vermeintlich fruchtlosen Konservatismus der Religion und Kirchlichkeit aufzuräumen. Dies sollte nicht zuletzt durch die größere soziale und ökumenische Offenheit und Mobilität der Kirchen geschehen (z. B. eine eindeutige explizite Anerkennung seitens der Weltorthodoxie des Christseins aller Getauften), durch eine aktivere Förderung der Geschwisterlichkeit als genuin christliches Ethos, das immer wieder in die Praxis umzusetzen ist. So könnte das spontane Streben zur friedlichen Einheit durch die Verbindung mit dem Christenheitserbe, den Werten und Erfahrungen von Glaube, Hoffnung und Liebe eine wahrhaft bereichernde Fundierung bekommen.
Kostiantyn Mykhanchuk, Ukraine
Kostiantyn Mykhanchuk ist Seminarist am Eichstätter Collegium Orientale.
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Es fällt mir schwer, diese Frage eindeutig zu beantworten, weil die Wahrnehmung dieses Ereignisses meiner Meinung nach in jeder Region der Ukraine etwas anders bewertet wird. Ich stamme aus dem mittleren Teil der Ukraine, der im Zweiten Weltkrieg durchgängig unter den deutschen Besatzern leiden musste und in dem die Rote Armee deshalb in erster Linie als Verteidiger der Heimat wahrgenommen wird. Außerdem gehörten die meisten Vorfahren der Bevölkerung meiner Stadt zu dieser Armee. Viele Menschen dort erinnern sich noch daran, dass ihre Großväter ihr Leben geopfert haben, damit wir in der Ukraine und nicht im Großdeutschen Reich leben.
In anderen Teilen der Ukraine ist dies ganz anders, so hat man in der Westukraine, in Lemberg die Rote Armee 1939 als Besatzungsmacht erlebt und verbindet sehr negative Erinnerungen daran. Dort wird sie als atheistisch-sozialistische Macht wahrgenommen.
Ich will diese komplexe Wahrnehmung der Geschichte mit einem persönlichen Beispiel illustrieren. Vor kurzem wurde in meiner Stadt ein berühmtes Denkmal abgebaut. Ich war gegen die Entfernung und bin furchtbar enttäuscht, dass dies geschah. Dieses Denkmal war einer Frau, einer Widerstandskämpferin gegen die deutsche Wehrmacht gewidmet. Sie hieß Soja Kosmodemjanskaja und wurde während des Zweiten Weltkriegs von der deutschen Wehrmacht gefoltert und hingerichtet. Ihr Leichnam wurde öffentlich zur Schau gestellt und geschändet. Für die deutschen Besatzer war sie in erster Linie eine Partisanin, weil sie in der Roten Armee kämpfte. Für nicht wenige Menschen in der Mittelukraine ist sie aber auch heute noch eine Frau, die ihre Heimat verteidigen wollte. Ich schätze und mag diese Frau, weil sie für mich eine Märtyrerin ist, die „für ihre Freunde ihr Leben hingab“.
Das oben beschriebene Ereignis wäre in anderen Gebieten der Ukraine schier undenkbar. Im Westen der Ukraine würde man keine Denkmäler für Rotarmisten dulden, weil ihre Erfahrung mit dieser Armee sehr negativ war. Im Süden und Osten wiederum würde man das Denkmal stehen lassen, weil dort noch eine positive Wahrnehmung dieser Geschichte herrscht.
Ich erlebe auch eindeutig einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht. Ich denke, dass die modernen Schüler in der Ukraine anders erzogen werden, als ich erzogen wurde. Als ich klein war, bekamen ich und meine Mitschüler von der Schulleitung die Aufgabe, ein Plakat zum Siegestag zu malen. Es ist sogar möglich, dass das damals von mir gemalte Plakat noch in der Schule aufbewahrt wird. Aber es ist undenkbar, dass dieses Plakat heute nochmal ausgestellt wird, weil die Symbole, die ich damals gemalt habe, heute fast verboten sind. Man kann große Probleme bekommen, wenn man sie benutzt. Diese Tatsache bedauere ich, weil ich als Kind gelernt hatte, was die Symbolik der Kriegszeit bedeutet und es wurde erwünscht, sie anzuwenden. Obwohl viele Menschen in meinem Land die Erinnerungskultur heute zu verändern versuchen, schätze ich immer noch bestimmte Symbole aus dieser Zeit. Mein Großvater wurde bspw. zwei Mal während des Krieges mit dem Ruhmesorden ausgezeichnet. Dieser Orden beinhaltet die Symbole, die heute von vielen in der Ukraine als feindlich angesehen werden. Aber für mich sind sie ein Zeichen des Ruhms meines Vaterlandes und ich denke oft daran, wenn ich in der Ukraine, die vor kurzem in der Armee und Polizei eingeführte Rufe „Ruhm der Ukraine! Ruhm der Helden!“ höre, ohne einen Widerspruch zu sehen. Andererseits sehen die Ukrainer aus anderen Teilen des Landes in diesen Symbolen die Verbrechen des stalinistischen Regimes, unter denen sie lange zu leiden hatten.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Ich denke, dass die Lehre über die Liebe zwischen den Menschen, insbesondere die Feindesliebe eine zentrale Lehre des Christentums ist. Diese Liebe kennt keine Grenze. Aber man muss sie auch richtig verstehen. Oft bekommt dieses Wort in der modernen Gesellschaft eine falsche Bedeutung. Man darf dabei nicht vergessen, dass Gott selbst die Liebe ist. Alles, was Gott fremd ist, darf nicht mit dieser Liebe in Verbindung gebracht werden. Darunter würde ich, um mein obiges Beispiel nochmal zu vertiefen, gerade die menschenverachtenden Verbrechen, der Schreckensideologien im 20. Jh. zählen. Die Menschen aber, egal wie sündig sie auch sein mögen, sind Gott nicht fremd und müssen daher von uns immer geliebt werden. Hier ist christliches Zeugnis gefragt: Wenn ehemalige Kriegsgegner sich mit christlicher Liebe begegnen, dann werden sie zueinander langmütig, ehrlich, geduldig, freundlich und miteinander versöhnt sein.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Ich bewerte die Entwicklungen zwischen Ost und West sehr pessimistisch. Ich denke, dass unsere Welt vor einer großen Katastrophe stehen könnte. Nichtsdestotrotz habe ich die Hoffnung, dass sie nicht stattfindet, denn ich vertraue auf die christliche Botschaft, die gerade in dieser Krisenzeit eine starke Hoffnung ist. Solch ein kleines Hoffnungszeichen kann ich auch konkret benennen, dies ist nämlich für mich der Ort, wo ich lebe und studiere: das Collegium Orientale in Eichstätt. Hier treffen sich Menschen aus West und Ost, die zu unterschiedlichen christlichen Konfessionen und Nationen gehören. Diese jungen Frauen und Männer haben ihre je eigene und zumindest zum Teil sehr verschiedene Ansichten. Nicht wenige der Konfessionen und Nationen, die im Collegium Orientale leben, lehren und lernen gehören verschiedenen Kulturkreisen an, die sich in der Heimat vielleicht nicht an einen Tisch setzten würden. So bspw. die Griechisch-Katholischen aus der Ukraine und die Orthodoxen, die dem Moskauer Patriarchat angehören. Oder auch die Georgier und die Armenier sowie Kroaten und Serben. Aber man kann an diesem Ort sehen, dass wenn die unterschiedlich erzogenen Menschen einander kennenlernen und respektieren, dann können sie nicht nur zusammen leben, sondern sogar gute Freunde werden.
Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn das Zusammenleben, der zu unterschiedlichen christlichen Konfessionen gehörigen Menschen, auch in der Ukraine praktiziert würde. Dabei soll meiner Meinung nach der Respekt an erster Stelle stehen. Damit man dies erfüllen kann, müssen manche Menschen, die sich Christen nennen, aufhören, die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) zu unterdrücken. Die UOK, die zum Moskauer Patriarchat gehört, fühlt sich mittlerweile verfolgt. Obwohl diese Kirche die größte Zahl an Mitgliedern im Land hat, wird in der Ukraine gegen sie massiv Gewalt ausgeübt und sie müssen oftmals neue Kirche bauen, weil ihnen die alten Kirchen weggenommen wurden. So wurden von Gemeinden der UOK mehr als 200 Anklagen diesbezüglich an ukrainische Gerichte gestellt, allerdings ohne sonderlichen Erfolg. Ich selbst wurde auch von dieser Gewalt getroffen. Ein Mensch, der sich selbst als Christ bezeichnet, bedrohte mich, dass er mich erschießen und umbringen werde. Ich hatte ihm gesagt, dass es ungerecht sei, dass er und seine Freunde, die sich als Christen bezeichnen, eine Kirche mit Gewalt von einem Priester weggenommen und ihn aus der Kirche vertrieben haben. Der Priester hatte die Kirche zudem noch mit eigenen Händen aufgebaut. Die Wegnahme sah ich mit eigenen Augen, deshalb kann ich sagen, dass sicher keine Versöhnung möglich ist, solange diejenige, die sich als Christen bezeichnen, aber sich unchristlich verhalten, ihre gewaltätigen Aktionen weiter ausüben.
Vladimir Khulap, Russland
Erzpriester Dr. Vladimir Khulap ist Studiendekan der Theologischen Akademie St. Petersburg.
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Der 22. Juni ist in Russland „der Tag des Gedenkens und der Trauer“, an dem der Große Vaterländische Krieg ausbrach. An diesem Tag gedenkt man all derer, die auf dem Kriegsfeld, in Gefangenschaft, vor Hunger und Not starben. In vielen Kirchen werden an diesem Tag Totengedächtnis-Gottesdienste zelebriert, da der Krieg der schrecklichste Einschnitt in der russischen Geschichte war und zu Millionen von Menschenopfern geführt hat. Obwohl dieses Datum in den Medien traditionell breit dargestellt ist, spielt der „Tag des Sieges“ - 9. Mai - eine viel größere Rolle, da an ihm Militärparaden, Friedhofsbesuche und in den letzten Jahren das sog. "unsterbliche Regiment" stattfindet, Massenprozessionen von Menschen mit Porträts ihrer Verwandten, die im Krieg gekämpft haben.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Die Versöhnungsinitiativen auf verschiedenen Ebenen entwickelten sich besonders aktiv nach der Wende, als sich Russland und Deutschland in neuen politischen Umständen getroffen und kennengelernt haben. So gab es z. B. es im Leningrader Gebiet Programme zur Erhaltung der russischen und deutschen Friedhöfe, die von einem orthodoxen Priester initiiert wurden. Die heutige jüngere Generation lebt schon in ganz neuen globalen Realitäten, wo diese historischen Spannungen zwischen unseren Völkern keine große Rolle spielen, aber in der Zeit der neuen internationalen Abkühlung bekommen die christlichen Kirchen im Westen und Osten eine neue Aufgabe, die „Entspannungspolitik“ zu fördern.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Ich denke, dass die direkten persönlichen Kontakte zwischen konkreten Menschen dabei am wichtigsten sind. In den letzten Jahren fanden z. B. gegenseitige Besuche von deutschen und russischen Theologiestudenten im Rahmen des „Petersburger Dialogs“ statt. Hier liegt ein großes Potential, weil gerade diese Leute in einigen Jahrzenten unsere ökumenischen Kirchenlandschaften bestimmen und hoffentlich zu christlichen Friedensbotschaftern werden können, die dann die gesamte Gesellschaft beeinflussen.
Vaja Vardidze, Georgien
Prof. Dr. Vaja Vardidze ist der Rektor der Sulkhan-Saba Orbeliani Universität in Tbilisi (Georgien).
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
In der Sowjetära war das Verständnis der Geschichte vom offiziellen Diskurs bestimmt. Der Tag des Kriegsbeginns war daher in Georgien wie in allen übrigen sowjetischen Republiken mit negativer Erinnerung beladen. Was den Wandel der Erinnerungskultur angeht, sind sowohl der Kontext des Betrachtens als auch das Paradigma des Verstehens als wesentliche Faktoren zu verstehen.
Heute hat sich der Kontext verändert, weil unsere Länder nicht mehr in einem einzigen Staat zusammengebunden sind, sondern jede Republik ihre eigene Selbstständigkeit zu stärken und nationale Narrative zu entwickeln sucht. Das Paradigma ist aber aus verständlichen Gründen dasselbe geblieben, weil der Kampf gegen das nazistische Regime moralisch geboten war. Der Unterschied im Rahmen der Erinnerungskultur (anderer Kontext, dasselbe Paradigma) verursacht, dass dieser Tag, also der 22. Juni, nicht mehr so sehr betont wird, wie es in der Sowjetzeit geschah. Es ist nicht nur so, dass dieses Ereignis weiter und weiter in die Vergangenheit rückt und sich damit von den neuen Generationen entfernt, sondern ein neues Verständnis von Geschichte immer mehr die Radikalität menschlichen Urteilens und Verurteilens relativiert.
Es gibt auch in der Gesellschaft Georgiens Stimmen zu hören, die fragen, ob der Krieg, den die Sowjetunion geführt hat und der nicht nur moralisch, sondern auch politisch und in humaner Hinsicht ein Desaster war, überhaupt als „Großer vaterländischer Krieg“ betrachtet werden soll. Zwei totalitäre Regime (Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion) kämpften um die Vorherrschaft in der Welt und verursachten den Tod von Millionen Menschen. Es gab nicht nur eine böse Macht, sondern die Welt als Ganzes stand damals in falschen Verhältnissen, in der totalitäre Regime dominierten, die ohne Rücksicht auf andere nach Vorherrschaft strebten. Das machte den Krieg wohl unvermeidlich.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Notwendige Voraussetzung für Versöhnung ist zuerst die Kommunikation über gemeinsame Interessen und Austausch sowohl der Erfahrungen als auch der gemeinsamen Perspektiven. Wo es nicht verständlich wird, dass Frieden unteilbar ist und nur dann besteht, wenn alle daran teilhaben, ist es sinnlos, über Versöhnung zu sprechen.
Gegenseitige Anerkennung der Freiheiten und der Schuldhaftigkeit der Menschen ist eine weitere Bedingung für die Versöhnung. Drittens ist die Nächstenliebe nicht nur ein christliches Gebot, sondern, pragmatisch gesehen, auch sinnvolles Engagement, woraus letztlich das Gemeinwohl entsteht. Ohne gegenseitige Anerkennung ist weder Frieden noch Wohlstand zu garantieren. Mehr noch, nach christlichem Verständnis tragen die Menschen die Verantwortung füreinander. Diese Verantwortung soll sich letztlich auf die ganze Welt erstrecken. Es gibt nur eine Welt und eine Menschheit, und das Ziel aller Nationen sollte es sein, Gottes Vorsehung zu realisieren – und dies bedeutet, in Frieden miteinander zu leben. Dazu müssen die Gesellschaften, Nationen und die ganze Menschheit Schritt zu Schritt voranschreiten.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Trotz vieler Probleme in Europa wie zum Beispiel der zunehmende Einfluss von Oligarchen und Autokraten oder das Auftreten von Populismus, Extremismus, Isolationismus und organisierter Kriminalität in vielen Ländern sind auch einige positive Hoffnungszeichen für Frieden und Versöhnung zu erkennen, so etwa das gestärkte Bewusstsein für die Notwendigkeit der europäischen Einigung oder die verstärkte Sorge um gemeinsame Probleme wie ökologische und sicherheitspolitische Fragen.
Ganz wichtig ist es, die Interessen und Bedürfnisse des Individuums und seiner Freiheit anstelle von ideologiebeladener Geopolitik zu sichern und das Bedürfnis nach Demokratie, Stabilität, und genseitiger Verantwortung unter den Menschen zu schärfen. Damit wird deutlich, dass wir alle füreinander Verantwortung tragen, egal zu welcher Kultur, Nation oder politischen Partei wir gehören. Die Kirchen und die einzelnen Staaten sollen diese Erfahrung des „gemeinsamen Hauses“ stärken, den Menschen mehr Raum für Freiheit verschaffen und ganz besonders dafür Sorge tragen, dass das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe in unserem Alltag wirkt. Wichtig ist: Es darf keine Zusammenarbeit mit Diktatoren und Autokraten geben – es gilt, die Demokratie zu unterstützen und sich für unterdrückte und schutzbedürftige Menschen einzusetzen.
Archimandrit Filipp (Simonov)
Archimandrit Filipp (Simonov) ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften, Professor und Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte an der Historischen Fakultät der Moskauer Lomonossow-Staatsuniversität.
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Jene, die den Tag selbst erlebt haben und die sich an die realen Ereignisse erinnern könnten, sind schon gestorben. Uns, die wir heute leben, würde ich in drei sehr unterschiedliche Gruppen einteilen, sowohl nach ihrer Anzahl als auch nach der in der Frage benannten „Erinnerungskultur“: (1.) Die Mehrheit erinnert sich an die Erzählungen der Großeltern und der Eltern – das sind Menschen wie ich, Nachkriegskinder, die die Geschichte bewerten, indem sie von ihrem gelebten Leben ausgehen, aus eigener Erfahrung, in der es keinen Kanonendonner, keine Bombardements, keinen kriegsbedingten Hunger, keine Zwangsmigration und andere Schrecken des Krieges gab. (2.) Viele, vor allem die heutigen Kinder, erinnern das, was sie kennen, hauptsächlich aus Büchern – die Ereignisse selbst sind zu weit entfernt, und die heutigen Eltern können keine persönlichen Eindrücke mehr weitergeben, sondern nur die Erzählungen von Verwandten. (3.) Und schließlich diejenigen, denen die Kriegsereignisse nicht zu Erinnerungen wurden, sondern zu Ideologien mit unterschiedlicher Konnotation.
Dennoch finden sich in meinem täglichen Synodikon, also der Liste jener, derer ich im Gebet gedenke, sehr viele Namen von Menschen, deren Leben in den Kriegsjahren endete. Und an den Tagen, wenn in der Kirche der Verstorbenen gedacht wird, werden diese Namen immer in der Liturgie laut genannt.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Ich wurde im Geiste des Internationalismus erzogen, in einer Atmosphäre der Freundschaft der Nationen. Man lehrte uns, das Volk von einer beliebigen verheerenden Ideologie zu unterscheiden, deren Opfer jeder werden kann. Wenn wir hier vom Faschismus sprechen, so sind auch jene meiner Freunde, mit denen ich in Deutschland zu tun habe, gute Christen und insgesamt gute Menschen, die keine Verbindung zu dieser Ideologie haben, die für den letzten Weltkrieg verantwortlich ist. Ich kann das Prinzip der Verantwortlichmachung der Nachfolger für die Taten ihrer Vorfahren nicht recht nachvollziehen – das ist so wie das ungesunde Bedürfnis nach allgemeiner Buße bei heutigen Russen wegen der Ermordung der Zarenfamilie: Weder ich noch meine Nächsten hatten jemals eine Beziehung zu diesen Ereignissen von vor mehr als einem Jahrhundert, und ich sehe in mir keinen Beweggrund zur Buße für das, was damals getan wurde. Deshalb scheint mir, dass die Verantwortung, von der wir sprechen, eine Motivation darstellen soll: die universale christliche Idee und nicht nur eine ethnophyletische, also auf eine Nation bezogene Ideologie. Es darf nicht darum gehen, dass die Judäer mit „den Samaritern nicht verkehren“ (Joh 4,9), sondern darum, dass „ein Samariter … ihn fand … und sich erbarmte“ (Lk 10,33): Unsere Verantwortung als Christen gilt für alle Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt, und nicht nur für das, was unsere Vorfahren begangen haben. Anderenfalls müssten die Franzosen und Engländer den heute bestehenden Frieden vergessen und gegenseitig Ansprüche aus dem Hundertjährigen Krieg erheben.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
dem das Volk unter den Bedingungen einer repräsentativen Demokratie bei weitem nicht immer eine auch nur entfernte Beziehung hat. Und so ist die Kirche (unter der Bedingung, dass sie maßvoll klerikalisiert ist, d. h., dass das Volk in ihr nicht nur „Gemeindeglieder“ sind, sondern reale Mitglieder, die am Leben der Gemeinden und Diözesen aktiv teilnehmen: „So sind wir, die vielen, ein Leib in Christus“, wie es der Apostel schreibt [Röm. 12,5]) ein anderes Organisationssystem, das nicht auf politisch-ökonomischen Widersprüchen gründet, sondern auf dem Prinzip christlicher Liebe auf der Grundlage verschiedener Arten der Kommunikation – von der eucharistischen Gemeinschaft bis zur ökumenischen (letztere ist für mich eine Variante unterschiedlichster zwischenkirchlicher Verbindungen, etwa auf der Ebene der sozialen Diakonie und des interreligiösen Dialoges, dabei allerdings ausgenommen die Spielarten einer „liturgischen“, im höchsten Maße künstlichen Gemeinschaft, wie sie innerhalb des Weltkirchenrates gepflegt wird).
In unserer Kompetenz versuchen wir „den Frieden … und die Liebe und das Mitleid“ (Jer 16,5) zu tragen. Nebenbei gesagt haben wir außerdem auch nicht gar nichts: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch“ (Joh 14,27), das ist unsere einzige Nachfolge. Wenn wir uns gegenseitig im Frieden aufbauen und Frieden und Liebe um uns herum säen, dann sind wir Jünger Christi: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt“ (Joh 13,35). Die Kirche hatte und hat keine andere Möglichkeit eines realen, nicht nur scheinbaren Einwirkens auf die, die „draußen sind“.
Aus dem Russischen übersetzt von Friedemann Kluge.
Arunas Kučikas, Litauen
Arunas Kučikas ist Direktor der Caritas Kaunas (Litauen)
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Seit dem letzten Jahrzehnt beschäftigt man sich in Litauen recht intensiv mit dem historischen Gedächtnis. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs und der Einzug der Deutschen in Litauen werden im Kontext von Ereignissen wie dem tatsächlichen Verlust der Unabhängigkeit Litauens und der Eingliederung in die Sowjetunion im Juni 1940 und den im Juni 1941 begonnenen Deportationen von Litauern in den Osten der Sowjetunion gesehen. Diskussionen über die Erinnerungskultur hängen weniger mit dem Einzug der Deutschen als mit dem Thema der nachfolgenden Shoa zusammen, insbesondere angesichts des Anteils der Juden, die in Litauen lebten und während der Shoa ermordet wurden.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Obwohl Litauen in die Sowjetunion eingegliedert wurde, kann sich der Großteil der Kriegsgeneration kaum einem der Kriegsgegner zuschreiben. Zu der Zeit war Litauen kein unabhängiger Staat mehr und seine Bevölkerung konnte an Feindseligkeiten auf beiden Seiten teilnehmen. Meiner Meinung nach besteht die wichtigste Aufgabe der litauischen Gesellschaft im genannten Kontext darin, sich weiterhin darum zu bemühen, die Shoa-Strategie, ihre Ursachen und Folgen zu kennen und anzuerkennen. Christen haben in letzter Zeit Initiativen zum Umgang mit der Geschichte ergriffen, aber ihre Rolle könnte viel größer sein.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Im Angesicht des nun zunehmenden Nationalismus und Populismus werden in Litauen die Erscheinungsformen des Vorkriegsnationalismus in europäischen Ländern (nicht nur die deutsche oder italienische, sondern auch mildere Varianten (in Litauen und anderen mitteleuropäischen Ländern) neu und kritisch betrachtet. Andererseits werden auch die Manifestationen des Nationalismus, die in der kommunistischen Ideologie existierten, wie auch die vereinfachten und oberflächlichen Lösungen der nationalen Frage kritisch betrachtet. Als Hoffnungszeichen können wir über das Projekt Europa sprechen, das die Zusammenarbeit fördert und historische und kulturelle Spannungen zwischen Nachbarländern und ethnischen Gemeinschaften abbaut. Christliche Kirchen und Initiativen tragen dazu bei (und können noch mehr tun), indem sie Kooperationen entwickeln, insbesondere in den Bereichen der Jugendbildung (z.B. in Taizé), der sozialen Aktivitäten und sozialen Gerechtigkeit (Katholische Soziallehre), des Pilgerns, des Austausches zwischen den Theologiestudenten und Seminaristen sowie der politischen Bildung.
Jennifer von Coburg, Deutschland
Jennifer von Coburg hat einen Freiwilligendienst in Sankt Petersburg abgeleistet.
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Tatsächlich spielt der 22. Juni angesichts der verheerenden Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, soweit ich das mitbekommen habe, eine eher untergeordnete Rolle. Das liegt daran, dass die Feierlichkeiten anlässlich des Tags des Sieges über den Faschismus (День Победы) am 9. Mai die Erinnerungskultur an die damaligen Ereignisse überstrahlt.
Der nicht arbeitsfreie „Tag der Erinnerung und der Trauer“ am 22. Juni existiert seit 1996 in Russland und wird ähnlich gefeiert wie bei uns der Volkstrauertag, allerdings mit dem Unterschied, dass sich der russische Gedenktag wirklich auf die kriegerische Auseinandersetzung mit Deutschland im Zweiten Weltkrieg fokussiert und der Volkstrauertag in Deutschland globaleren Charakter hat.
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Was das angeht, hat eine Versöhnung von meinem Erleben her bereits stattgefunden. Zu keinem Zeitpunkt haben die Menschen, die ich in Russland getroffen habe, schlecht auf mich reagiert, weil ich Deutsche bin, eher im Gegenteil. Die meisten waren sehr offen und interessiert und haben versucht, mit mir etwas deutsch zu sprechen, das sie zum Beispiel in der Schule gelernt hatten. Ein älterer russischer Mann hat einer Freundin und mir sogar einmal ein altes deutsches Lied vorgesungen, das er noch von früher gekannt hat, als er gemerkt hat, dass wir miteinander deutsch gesprochen haben.
Aus den geschilderten Erlebnissen lässt sich auch ableiten, wie man aus einer christlichen oder auch einfach aus einer menschlichen Sicht heraus Versöhnung einleiten und aufrechterhalten kann. Dafür ist es lediglich notwendig, andere Menschen nicht auf Grund ihrer Herkunft zu verurteilen, sondern offen zu sein dafür, was andere Kulturen anders handhaben, und man muss aufeinander zugehen, sich austauschen und sich auch bemühen, die andere Person zu verstehen. Neue Gewalt zu verhindern ist schließlich eine globale Aufgabe, die jeden Menschen betrifft und für die jeder einen Beitrag leisten kann und sollte.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Immer dann, wenn eine gesunde Kommunikation und ein lebendiger Austausch zwischen verschiedenen Nationen möglich sind, bildet das den Grundstein für ein friedliches und freundschaftliches Zusammenleben. Wenn man mich fragt, ist das auch der effektivste Ansatz, um Nationalismus und Populismus den Wind aus den Segeln zu nehmen, da Vertreter solcher Gruppierungen oftmals das Unwissen und die Ängste der Menschen für sich manipulieren und zu nutzen wissen.
Ein Austausch kann auf vielfältige Art und Weise gefördert werden, sei es, wie in meinem Fall, im Rahmen des Freiwilligendienstes in Osteuropa, oder auch mittels anderer Veranstaltungen, die zur Verständigung zwischen Kulturen beitragen.
Ottmar Steffan, Deutschland
Ottmar Steffan ist Fachreferent Weltkirchliche Arbeit Mittel- und Osteuropa / Freiwillige Dienste im Ausland der Diözese Osnabrück.
Erinnerung – Am 22. Juni jährt sich zum 80. Mal der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Wie wird dieses Ereignis heute in Ihrem Land wahrgenommen? Erleben Sie einen Wandel, was die Art und Weise der Erinnerungskultur angeht?
Als Deutscher der Nachkriegsgeneration habe ich in all meinen Begegnungen in Russland immer gespürt, dass die Erlebnisgeneration, die den Zweiten Weltkrieg miterleben musste, sehr wohl zwischen damals und heute, zwischen dem Nazi-Regime und uns Nachkommen, die heute Russland besuchen, unterscheidet. Immer ist mir mit Respekt und ohne jegliche Schuldzuweisung begegnet worden.
Ich war einige Male am 9. Mai, dem russischen Feiertag des Sieges über den Faschismus in Russland, u. a. in Wolgograd, dem ehemaligen Stalingrad. Das waren besonders bewegende und aufwühlende Tage für mich. Bei einer meiner ersten Reisen nach Russland in Begleitung eines Hilfstransportes Mitte der neunziger Jahre hatten wir am Tag nach Verteilen der ersten Lebensmittelpakete einen Termin im Bürgermeisteramt der kleinen Stadt im Nordkaukasus. Als wir mit dem Wagen vorfuhren und den Eingangsbereich des Amtes betraten, in dem schon die Dolmetscherin für das Gespräch mit dem Bürgermeister wartete, kam ein älterer Herr auf uns zu, der anhand seiner Uniform, die mit vielen Orden bekleidet war, unschwer als Kriegsveteran zu erkennen war. Schnurstracks kam er auf uns zu, reichte uns die Hand, verbeugte sich und bat die Dolmetscherin zu übersetzen. Er redete nicht viel, doch was er zu sagen hatte und mit welcher Emotion er seine Gedanken kundtat, das lässt die Erinnerung an diesen Moment wieder in mir hochkommen. „Verehrte Gäste, ihr seid aus Deutschland angereist, um uns in dieser tiefen Not zu helfen. Es bewegt mich aus tiefstem Herzen, der vor über 50 Jahren gegen den faschistischen Aggressor gekämpft hat, um unser Vaterland damals zu verteidigen. Ihr seid heute in friedlicher und freundschaftlicher Verbundenheit zum russischen Volk zu uns gekommen und habt in alle Häuser unseres Dorfes Hilfspakete verteilt. Für diese Geste danke ich Euch zutiefst. Wir wissen wohl zu unterscheiden zwischen der Zeit damals, als Deutschland vom Faschismus bemächtigt war, und dem Heute, in dem unsere Länder freundschaftlich verbunden sind. Ich bin glücklich bewegt und zugleich beschämt, 50 Jahre nach Kriegsende aus der Hand von Euch Deutschen diese Hilfspakete für meine Frau und mich entgegennehmen zu können. Gott sei mit Euch alle Tage Eures Lebens. Habt herzlichen Dank!“ Wieder verbeugte er sich, Tränen der Rührung in den Augen, gab er uns allen die Hand und verabschiedete sich. Er hat uns für einen längeren Moment sprachlos zurückgelassen. Diese Begegnung hat mich so bewegt, dass ich sie nie vergessen werde.
Vielleicht war diese Begegnung ein Moment des Ansporns für mich, unsere Russlandhilfe auch als eine Art Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht zu sehen
Versöhnung – Eine dauerhafte Versöhnung ist nur möglich, wenn die Nachkommen der ehemaligen Kriegsgegner sich zur Verantwortung gegenüber den Opfern bekennen und so vorurteilsfrei wie möglich versuchen, Schritte zur Versöhnung zu gehen. Wie ist Versöhnung aus einer christlichen Haltung heraus möglich?
Die größten Versöhnungszeichen habe ich bei den beiden Russisch-Polnisch-Deutschen Jugendtreffen in Auschwitz erlebt. Junge Katholiken aus den drei Ländern haben miteinander Tage verbracht, die keiner von den Teilnehmern je vergessen wird. Wir haben zusammen gebetet, getrauert, uns besser kennengelernt und sind achtsam mit uns, unseren Biografien und Meinungen umgegangen.
Hoffnung – Auch wenn gegenwärtig die Spannungen zwischen Ost und West wieder zunehmen gibt es doch auch viele positive Signale in den Beziehungen zwischen den Menschen in Osteuropa und ihren westlichen Nachbarn. Welche Hoffnungszeichen sehen Sie diesbezüglich? Welche Rolle spielen die Kirchen in Ihrem Land dabei?
Der weitere Ausbau der Freiwilligendienste im Ausland, sowohl von Deutschland nach Osteuropa als auch von Osteuropa nach Deutschland, ist ein hervorragendes Programm der Versöhnungsarbeit. Es gibt meiner Meinung nach nichts Besseres als Begegnungen, den Respekt voreinander und das gemeinsame Gebet um dauerhaften Frieden untereinander.