Andrij Waskowycz ist Präsident der griechisch-katholischen Caritas der Ukraine.
Die Verletzungen des Waffenstillstands haben seit Beginn des Jahres enorm zugenommen. Sie wurden nur kurz unterbrochen, es gab immer wieder Verletzungen des Waffenstillstands seit Ende Juli letzten Jahres, als dieser Waffenstillstand vereinbart worden war. Leider gab es auch immer wieder Opfer, Tote und Verletzte, aber seit Beginn dieses Jahres hat es stark zugenommen. Mit Stand von heute sind es 40 tote Soldaten. Alle Anzeichen sprechen für eine Eskalation der militärischen Aktivitäten, der massive Aufmarsch russischer Truppen vor allem an der ukrainischen Grenze lässt befürchten, dass es in nicht allzu ferner Zukunft zu einem erneuten Angriff seitens des russischen Militärs kommen kann, damit zu einer Invasion russischer Kräfte in die Ukraine, und das lässt die Menschen in Angst und Schrecken leben.
Die Frontlinie in der Ukraine entlang der Pufferzone, also entlang der Kontaktzone, die die Gebiete, die von der ukrainischen Regierung kontrolliert werden, von denen außerhalb ihrer Kontrolle trennt, zieht sich über 420 km hin. Und in diesem Gebiet kommt es immer wieder zum Beschuss, auch zum Einsatz von Scharfschützen, es explodieren in diesem Gebiet auch enorm viele Landminen, durch die viele Menschen zu Opfer werden.
Die Menschen in dieser Pufferzone leben natürlich in Angst und Schrecken vor einer neuerlichen Großoffensive seitens Russlands und vor allem einer Invasion, denn das würde natürlich das Kriegsgeschehen enorm steigern und zu einer weiteren militärischen Eskalation führen. Wir können überhaupt nicht einschätzen, was in den nächsten Wochen geschehen wird: Kommt es zu einer neuerlichen Invasion, werden die schweren Waffensysteme, die an der Grenze zur Ukraine stationiert worden sind, zum Einsatz kommen, und welche Folgen wird dies für die Bevölkerung haben? In dieser Gegend, entlang der Pufferzone, leben auf beiden Seiten etwa 500.000 Menschen. Aber das ist auch eine Region, die schon heute enorm unter den kriegerischen Auseinandersetzungen leidet. Zählt man die Flüchtlinge mit, sind 3,4 Millionen Menschen von den Folgen des Krieges betroffen und bedürfen humanitärer Hilfe.
Die russische Politik ist bestrebt, die Ukraine wieder unter ihre Herrschaft zu bekommen und sie in ihr herrschaftliches System einzuverleiben. Das sind strategische Ziele des russischen Imperalismus und Expansionismus, die Putin verfolgt. Heute gibt es natürlich auch Gründe in der innenpolitischen Situation in Russland, wo es für Putin darum geht, durch Erfolge in der Außenpolitik seine Herrschaft im Inneren zu stabilisieren. Dies war und ist immer ein Grundpfeiler der russischen Politik gewesen. Wir haben in der Geschichte gesehen, dass Russland, wenn es die Ukraine kontrolliert hat, eine Weltmacht war – sobald es die Kontrolle über die Ukraine verloren hat, war es im besten Falle eine Regionalmacht, die keinen großen Einfluss in der Welt haben konnte. Heute ist dieser Einfluss durch die Atomwaffen gegeben.
Sie erhoffen sich in der derzeitigen Situation natürlich Stärkung und Solidarität mit der Ukraine, damit sie diesen Bestrebungen Russlands widerstehen kann. Die Ukraine braucht Hilfe in wirklich allen Bereichen, im diplomatischen, im militärischen und auch im humanitären und wirtschaftlichen Bereich. Die Ukraine ist heute der Vorposten einer Auseinandersetzung, die weit über sie selbst hinausreicht, nämlich der Auseinandersetzung zwischen autoritären und demokratischen Systemen. Wir sehen heute in der Welt gerade diese Polarisierung, und man versucht in diesen autokratischen Systemen zu zeigen dass die demokratischen Systeme nicht funktionieren können, dass sie schwach sind und ihre Staaten nicht verteidigen können, dass sie also eine falsche Politik machen und daher heute alles dafür spricht, dass die autokratischen Systeme die Oberhand gewinnen.
Zuallererst ist es wichtig, dass die Menschen und speziell auch die Gläubigen Anteil nehmen an der Situation in der Ukraine, am Leiden des ukrainischen Volkes durch diese Bedrohung und durch den Krieg. Zum anderen ist es auch die humanitäre Hilfe, die heute benötigt wird. Wie ich schon erwähnt habe: 3,4 Millionen Menschen brauchen in der Ukraine humanitäre Hilfe, und hier können sowohl die Menschen als auch die Kirchen in den Nachbarländern hilfreich sein, damit diese Hilfe zu den Bedürftigen kommt. Und dann gibt es noch den dritten Punkt, dass man heute mit gemeinsamem Einsatz versuchen muss, die Staaten dazu zu zwingen, sich wieder an das Völkerrecht zu halten, damit nicht die pure Stärke, sondern das Recht die Oberhand behält. Die demokratischen Staaten müssen durch gemeinsames Handeln die das Völkerrecht brechenden Staaten in die Schranken weisen.
Dr. Sergij Bortnyk ist Mitarbeiter beim Kirchlichen Außenamt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, Moskauer Patriarchat
Letzte Tage sieht man, dass die Spannungsphase vorbei ist, aber insgesamt wird die Situation nicht einfacher. Ich vermute, dass es seitens Russlands das Interesse gibt, unstabile Situation in der Ostukraine weiter beizubehalten, wie es z. B. seit Jahrzehnten in Transnistrien der Fall ist. Als Hilfe für diese Antwort habe ich eine Broschüre des Razumkov-Center genommen, in dem die öffentliche Meinung der Ukrainer abgefragt worden ist. Die Daten kommen aus dem Jahr 2020, also sind nicht mehr so ganz aktuell. Trotzdem zeigen sie deutlich, dass Frieden in Donbass Region die wichtigste Frage in der Tätigkeit des jetzigen Präsidenten Zelenskyi ist – wichtiger als Wirtschaft, Kampf gegen Korruption und gegen Corona-Pandemie. Gleichzeitig ist in den Umfragen interessant, dass die große Mehrheit der Ukrainer (im Durchschnitt fast 65%) davon überzeugt ist, dass der Konflikt nicht innerukrainisch, sondern zwischen der Ukraine und Russland ist.
Der Teil dieser Gruppe ist jedoch je höher, desto weiter von der Grenze entfernt – von 7-9% im Westen und Zentrum bis 28-30% im Süden und Osten der Ukraine. Wenn Menschen eigene Verwandte im Konfliktgebiet haben oder am dortigen Kampf teilgenommen haben, unterstützen sie mehr die Position, dass der Konflikt innerukrainisch ist. Insgesamt bedeutet das, dass es im Konflikt in der Ostukraine Nuancen gibt, die vor allem durch persönliche Kontakte bekannt werden.
Hier kann ich nur meine persönliche Meinung äußern. Auf der einen Seite, gibt es konkrete Probleme mit dem Halbinsel Krim, unter anderem mit der Süßwasserlieferung. Deswegen spricht man manchmal über den „Landgang (Korridor durch den Festland)“ zur Krim. Aber auf der anderen Seite bin ich der Meinung, dass das Regime von Putin nicht einen Teil der Ukraine braucht, sondern möglichst die ganze Ukraine (vielleicht außer Galizien) unter seiner Kontrolle haben will. Deswegen ist es vor allem ein Informationskampf um den Einfluss und Bedeutung, weher als ein bewaffneter Konflikt um konkrete Teile des ukrainischen Territoriums.
Russland kämpft für eigene Bedeutsamkeit in der Welt – besonders in den Augen der Mächte in den USA und Europa. M.E. ist das kein christliches Verständnis der Regierenden, das eher die Konkurrenz der späten Sowjetunion mit dem globalen Westen wiederholt. Auf der anderen Seite gibt es Unruhe wegen der Wünsche der Russen, neue Personen an der Spitze ihres Landes zu haben – wie es mit der Figur von Aleksej Nawalnyi ist. Also, es gibt innerrussische Probleme, die die Situation begründen könnten.
Die Ukraine selbst bleibt ein unstabiles Land. Das haben unsere letzten Wahlen, wie auch die beiden Revolutionen im 21. Jahrhundert gezeigt – die Orangene Revolution und die „Revolution der Würde“. Die Ukrainer brauchen stabile wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Landes – das wäre möglich durch die Unterstützung seitens unserer Nachbarländer. Ich bin der Meinung, dass in der Ukraine der Staat ziemlich schwach bleibt, während die Zivilgesellschaft mit tausenden kleineren Initiativen wirksam ist. So ist auch die Tätigkeit der Stiftung „Akademische Initiative“ zu sehen, die ich leite. Wir verknüpfen verschiedene junge Menschen der Ukraine mit Kollegen und Partnern in Europa und zeigen ihnen neue Entwicklungsmöglichkeiten. So können wir zusammen eine neue und europäische Ukraine bilden.