Ein Beitrag von Heiner Grunert
Dr. Heiner Grunert ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München (Abteilung für Geschichte Ost- und Südosteuropas).
Am 10. Oktober 1918 hielt der slowenische Abgeordnete Ivo Benkovič im Reichsrat (Parlament) in Wien eine glühende Rede. Wütend rechnete er mit Habsburg ab – mit der Arroganz, Ignoranz und Starrheit seiner Eliten. Er forderte nichts mehr für die Zukunft. Er konstatierte nur noch, was bereits eingetreten war. Es war die letzte Rede eines südslawischen Delegierten im Österreichischen Reichsrat:
Wir wollen als freies Volk der Jugoslawen uns frei entschliessen, welche Satzungen wir uns geben wollen, und wir wollen uns frei entschliessen, ob und welche Beziehungen wir zu anderen freien Völkern anknüpfen wollen. (Beifall) Es ist die Wahrheit, welche man jeden Tag wiederholen muss, dass alle Anerbieten, welche heute an die Südslawen gemacht werden, vollkommen nutzlos sind ... Ich gebe der Überzeugung Ausdruck, welche in unserem ganzen dreieinigen jugoslawischen Volke sich befestigt: Es ist zu spät!1
Am Tag zuvor hatten an selber Stelle ein polnischer und ein tschechischer Abgeordneter skandiert: „Schütze Gott das vereinigte und unabhängige Polen!“ und „Der neue böhmische Staat lebe hoch!“2 Habsburg lag politisch und wirtschaftlich am Boden und war militärisch besiegt. In Ljubljana und Zagreb, Sarajevo und Split hatten sich seit August Nationalräte aus lokalen Politikern gegründet. Die Gremien übten anfangs politischen Druck auf das Zentrum aus und mussten bald schon das Machtvakuum füllen, das die verschwundenen habsburgischen Strukturen hinterließen. In den südlichen Gebieten der Habsburger ging es seit Oktober 1918 konkret meist darum, die öffentliche Sicherheit zu wahren.
Wenige Tage später hatte Kaiser Karl am 16. Oktober letztmals in Wien das Reich zu retten versucht und im Oktobermanifest einen Bundesstaat und die Anerkennung aller Nationalräte, die sich seit Sommer gegründet hatten, versprochen.3 Für viele war dies nur mehr das Eingeständnis einer Kapitulation des alten Staates. Dafür war es einfach zu spät. Der Vertrauensverlust in den habsburgischen Staat war unumkehrbar. Am 2. November veröffentlichte das Reichsgesetzblatt die letzte Verordnung, am 11. November dankte der Kaiser ab.4 Damit hörte ein jahrhundertealtes Großreich in der Mitte Europas auf zu bestehen.
Bis in den Sommer hatten dies nur wenige einheimische südslawische Eliten gefordert oder angestrebt. Auch hatte kaum einer an ein solch jähes Ende geglaubt. Dieser Essay möchte den brüchigen Entwicklungen der vielfältigen Pläne, Forderungen und Orientierungen in den letzten beiden Kriegsjahren in Slowenien, Kroatien und Bosnien und Herzegowina nachgehen – in jenen Regionen also, die bis dahin in Form der Länder Kärnten, Steiermark, Krain, Küstenland und Dalmatien zur österreichischen, als Kroatien-Slawonien zur ungarischen und als Bosnien und Herzegowina zu beiden Reichshälften gehört hatten. Jedes dieser Gebiete wurde bis dahin auf je eigene Weise regiert und verwaltet, hatte eine spezifische Bevölkerungsstruktur und stand in einer eigenen imperialen Abhängigkeit zu einem der beiden Zentren der Monarchie Wien und Budapest.
Kriegserfahrungen und Loyalitäten gegenüber Reich und Nation
So unterschiedlich wie die Länder und Bevölkerungen, so spezifisch waren auch die Erfahrungen des Krieges, die die Loyalitäten der Bevölkerungen veränderten. In allen habsburgischen Ländern herrschte ab August 1914 eine militärische Sonderverwaltung, die zivile Rechte stark beschränkte. Besonders harsch war die Militärverwaltung in Bosnien – aufgrund der Nähe zur Front und zu den Erzfeinden Serbien und Montenegro sowie der vermeintlich für den Krieg mitverantwortlichen, serbischen Bevölkerung. In Dalmatien und insbesondere in Bosnien und Herzegowina lebende Serben wurden zu Zehntausenden interniert, als militärische Geiseln „benutzt“, aus den Frontregionen vertrieben oder ermordet. Aber auch Dutzende „politisch verdächtige“ Slowenen und Kroaten mit vermeintlich serbophilen, jugoslawischen oder schlicht unzureichend patriotischen Haltungen wurden festgenommen. Ähnliches geschah im Übrigen mit Ukrainern (Ruthenen) in Galizien und ab der Kriegserklärung Italiens im Mai 1915 auch mit Teilen der italienischen Bevölkerung im Küstenland. Im Gegensatz dazu verteidigte Ungarn „seine“ Serben in Kroatien-Slawonien weitgehend gegen die Verdächtigungen des Militärs – auch um die häufiger revoltierenden Kroaten zu kontrollieren. So blieb die serbische Partei in Zagreb auch weiter Teil der regierenden Koalition.
Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung zwischen Klagenfurt, Triest und Zagreb, Dubrovnik und Osijek verhielt sich seit Kriegsbeginn aus freien Stücken loyal gegenüber dem Kaiser und König, dem Reich und seinem Militär. In Bosnien, Kroatien und Dalmatien versammelte sich die katholische und muslimische Bevölkerung im Spätsommer 1914 sogar vielerorts zu antiserbischen Demonstrationen und prohabsburgischen Jubelfeiern. Ein knappes Jahr später hatte der Kriegseintritt Italiens für große Teile der slowenischen Bevölkerung vor allem des Küstenlandes eine zudem loyalitätsverstärkende Wirkung gegenüber dem Kaiserreich, da nationale Spannungen hier seit dem 19. Jahrhundert vor allem mit der italienischsprachigen Bevölkerung ausgefochten wurden und die „Deutschösterreicher“ als das kleinere Übel galten. Die veränderlichen und situativen Loyalitäten größerer Gemeinschaften waren in Kriegszeiten unter neuen Ängsten und schwierigen Lebensumständen besonders fluide. In Kroatien-Slawonien und Dalmatien wurden bereits ab 1915 unterschiedliche Orientierungen für die Zeit nach dem Krieg offenbar. Katholische Kreise bemühten sich, teils mit Unterstützung des Papstes, bereits seit dem Frühjahr 1915 sowohl um einen baldigen Frieden als auch um eine verbesserte Situation der Slowenen und Kroaten innerhalb der Donaumonarchie (Memorandum von Rijeka). Parallel dazu hoffte allerdings auch die Mehrheit des wiedereröffneten Parlaments (sabor) in Zagreb nach dem Ende des Krieges auf eine Vereinigung Kroatiens mit Dalmatien und Bosnien.
Gesellschaftliche Krisen und politische Mobilisierungen im dritten Kriegsjahr 1917
Waren die ersten beiden Kriegswinter vor allem in den Städten hart, so verschlechterte sich die Versorgungslage mit Lebensmitteln und Brennstoffen im Winter 1916/1917 in vielen Regionen dramatisch. Es fehlte nun auch auf dem Land an Brotgetreide, Kartoffeln, Futtermitteln und Brennstoffen. In der Steiermark und in Kärnten, in Istrien, Dalmatien und Bosnien und Herzegowina, die schon zu Friedenszeiten auf Lebensmittellieferungen von außen angewiesen waren, berichtete man von Hunger. Ein Bericht der Landesregierung in Sarajevo beschrieb die Lage in Bosnien und Herzegowina zu Beginn des Jahres 1917 wenig beschönigend als „düster“:
Kukuruzkolben, Gras, Wurzeln, verschiedene Sträucher, etz. bilden in vielen Bezirken [Bosnien und Herzegowinas] einen Hauptbestandteil der Volksernährung und wurden von der Gendarmerie bereits eine Reihe von Sterbefällen infolge Erschöpfung durch Hunger registriert.5
Nur im von großen landwirtschaftlichen Betrieben geprägten Kroatien-Slawonien war die Versorgungslage etwas besser. In allen Ländern der südlichen Habsburgermonarchie jedoch wuchsen 1917 Unmut und Kritik gegenüber Wien. Offenbar noch stärkere Ablehnung war in Kroatien-Slawonien gegenüber Budapest zu spüren, dem man koloniale Ausbeutung seiner Peripherien vorwarf.
Nach dem Tod von Kaiser Franz Joseph I. im November 1916 übernahm Kaiser Karl I. die Führung des Reiches. Von Beginn an drängte Karl auf einen Separatfrieden, blieb damit jedoch aufgrund der Treue zu Deutschland letztlich erfolglos. Der schwierigen Lage im Reich versuchte er mit sozialen und liberalen Reformen zu begegnen. Neben einer verbesserten Sozialgesetzgebung sollte das Land durch die erneute Einberufung des Reichsrats, dem Parlament der österreichischen Staatshälfte, stabilisiert werden. Gleich am ersten Sitzungstag, dem 30. Mai 1917, forderten Tschechen, Ukrainer, Polen und Südslawen fundamentale Veränderungen der Struktur des Reiches. Eine Gruppe von 32 südslawischen Abgeordneten, der so genannte Jugoslawische/Südslawische Klub unter Führung des Slowenen Anton Korošec, forderte ohne Umschweife
die Vereinigung aller von Slowenen, Kroaten und Serben bewohnten Gebiete der Monarchie zu einem selbständigen, von jeder nationalen Fremdherrschaft freien, auf demokratischer Grundlage aufgebauten Staatskörper unter dem Zepter der Habsburgisch-Lothringischen Dynastie.6
Die Abgeordneten argumentierten mit dem „nationalen Prinzip“ und dem „kroatischen Staatsrecht“, also mit dem modernen Selbstbestimmungsrecht der Völker und historischen Rechten. Die so genannte Maideklaration reihte sich ein in Autonomieforderungen anderer Slawen des Reiches und knüpfte mit ihrer Forderung auf Gründung eines politischen Territoriums von Slowenen, Kroaten und Serben innerhalb der Monarchie an den Jugoslawismus des Memorandums von Rijeka aus dem Jahre 1915 an. Obwohl von der Wiener Regierung bald abgelehnt, entwickelte sich die klar formulierte und kurze Deklaration zum Grundstein einer politischen Massenbewegung in slowenischen und kroatischen Gebieten. Entscheidenden Anstoß gaben hierfür katholische Eliten, insbesondere der Bischof von Ljubljana/Laibach, Anton Jeglič, später auch der Bischof von Krk, Anton Mahnič. Nachdem Jeglič im September 1917 öffentlich die Ziele der Maideklaration unterstützt hatte, begannen Pfarrgemeinden in Krain, der Steiermark und Kärnten ab Oktober 1917 zehntausende Unterschriften für die Deklaration zu sammeln. Gerade in Krain und der Steiermark unterstützten bis zum Jahresbeginn von 1918 mehr als die Hälfte der Pfarrgemeindevorstände die Deklaration mit weit über hunderttausend Unterschriften. In Kärnten unterband die Landesregierung bereits seit 1917 die slowenisch-südslawische politische Mobilisierung und dennoch sammelten die Organisatoren auch hier über 19.000 Unterschriften – von rund einem Fünftel der slowenischsprachigen Bevölkerung des Landes. Ab März 1918 wandelte die Bewegung ihre Mittel und übte nun mit Massendemonstrationen Druck aus.
In Gebieten mit kroatischen Bevölkerungsmehrheiten fand die Deklarationsbewegung erst Monate später und regional unterschiedlich stark Unterstützung. Einige Parteien (starčevići) und katholische Geistliche sammelten auch in Istrien und Dalmatien zehntausende Unterschriften. In Kroatien-Slawonien jedoch gewann die Bewegung erst deutlich später verhalten an Fahrt – hier besaß das Argument der kroatischen Staatsräson unter Eliten stärkeres Gewicht, wodurch sowohl die Regierungs- als auch wichtige Oppositionsparteien sich entweder abwartend pro-habsburgisch oder eher pro-kroatisch im Sinne des Einschlusses von Dalmatien und Bosnien nach Kroatien positionierten. Erst im Frühsommer 1918 unterstützte eine relevante Zahl von Politikern die Deklaration einschließlich des gewichtigen Bauernführers Stjepan Radić. In Bosnien wiederum war keine politische Betätigung möglich, die Haltungen noch vielfältiger. Der katholische Erzbischof von Sarajevo, Stadler, war explizit gegen die Deklaration und trat für ein geeintes Kroatien ein – im Gegensatz zu einigen Franziskanern im Land. Die bosnischen Muslime waren ebenso verhalten und betonten den eigenständigen Charakter des Landes gegenüber anderen südslawischen Ländern der Monarchie.
Auch die Überzeugungen, Ziele und Loyalitäten der Befürworter der Maideklaration waren vielfältig und veränderten sich in den Kriegswirren schnell. Diente einigen Unterstützern die Deklaration nur als legaler Deckmantel für antihabsburgische Forderungen, fühlte sich die Mehrheit bis in den Sommer sowohl der Idee südslawischer Einheit als auch der Bindung gegenüber Habsburg verpflichtet. Božidar Vukotić, serbischer Reichsratsabgeordnete und Anwalt aus Dalmatien, der zu Beginn des Krieges vom habsburgischen Militär interniert worden war, erklärte im Februar 1918 im Parlament seine Unterstützung für die Maideklaration und führte dafür detailliert die Verbrechen Österreichs gegenüber Serben im Reich aus. Abschließend fragte er:
Ist es ein Wunder, daß ein so schwer heimgesuchtes Volk nicht mehr gewillt ist, in diese so verhängnisvollen Ketten geschmiedet zu werden? Wir verlangen, daß unserem Volk für alle Zukunft Gewähr geleistet werde, daß sich solche Begebnisse und solche Anschläge gegen seine Existenz nie wiederholen sollen und nie wiederholen können ([Zwischenrufe] Sehr richtig!) Diese Gewähr kann uns aber einzig und allein durch die Bildung eines unabhängigen Staates gegeben werden. (Beifall) Nur in einem unabhängigen Staatswesen kann unser Volk eine bessere Zukunft sich schmieden und diese zu erlangen sind wir zu jedem Opfer bereit.7
Aber auch er forderte das unabhängige Staatswesen nicht außerhalb der Monarchie. Ähnlich beschrieb 1920 der Laibacher Bischof Jeglič, einer der Initiatoren der Deklarationsbewegung, sich selbst als „treuen Österreicher“, der sich gleichzeitig immer die Vereinigung der Südslawen gewünscht hatte.
Der Einfluss der Kriegsereignisse auf die weitere Entwicklung
Für die Verschiebung der Loyalitäten der habsburgischen Untertanen und das politische Ende der Habsburgermonarchie war der weitere Kriegsverlauf in Europa entscheidend. Neben reichsinternen (österreichischen und ungarischen) Machtbeziehungen, dem Südslawischen Klub im Wiener Reichsrat und Kirchenkreisen beeinflussten auch die serbische Exilregierung auf der griechischen Insel Korfu sowie südslawische habsburgische Exilpolitiker in London die Strategien und Pläne für die Nachkriegssituation auf dem westlichen Balkan.
Die serbische Regierung hatte ihre Kriegsziele schon wenige Monate nach Kriegsbeginn sehr hoch gehängt. Im Dezember 1914 erklärte sie in der Nationalversammlung in Niš, wohin sie geflohen war:
Überzeugt von der Entschlossenheit des ganzen serbischen Volkes, auszuharren im heiligen Kampf um die Verteidigung seines heiligen Herdes und der Freiheit, betrachtet es die Regierung als ihre wichtigste und in diesen schicksalhaften Momenten einzige Aufgabe, den erfolgreichen Ausgang dieses großen Krieges zu sichern, der, in den Momenten als er anfing, zugleich ein Kampf zur Befreiung und Vereinigung all unserer unfreien Brüder der Serben, Kroaten und Slowenen wurde.8
Diese Ziele waren im Winter 1914/1915 utopisch. Die Mehrheit der Südslawen innerhalb der Habsburgermonarchie konnte ihnen – mit Ausnahme der Serben – kaum etwas abgewinnen. Für die geflohenen südslawischen Exilpolitiker stellten sie jedoch unter bestimmten Voraussetzungen einen hoffnungsvollen Ausweg dar. Sie schlossen sich – wie etwa auch tschechische und slowakische Politiker – im Mai 1915 in London zu einem so genannten Jugoslawischen Komitee zusammen und kämpften bald medial gegen Habsburg und für ein politisches Zusammenwirken der Südslawen in Österreich-Ungarn mit Serbien.
Im Juni 1917 kamen auf Korfu das Jugoslawische Komitee unter Führung des dalmatinischen Kroaten Ante Trumbić mit der serbischen Regierung Nikola Pašićs zusammen, um über die Nachkriegsordnung für Serben, Kroaten und Slowenen zu beraten. Das nach anderthalb Monaten Verhandlungen entstandene Abschlussprotokoll, die Deklaration von Korfu vom 20. Juli 1917, war ein konkreter Plan für einen zukünftigen gemeinsamen Staat und in gewisser Weise eine Antwort der serbischen Regierung und habsburgischer Exilpolitiker auf die Maideklaration desselben Jahres. Im Pathos zukünftiger Staatsgründer erklärte man einleitend:
dass dieses unser dreinamiges Volk eins ist nach dem Blute, nach der geschriebenen wie gesprochenen Sprache, nach den Gefühlen seiner Einheit, nach der Kontinuität und der Einheit des Territoriums, auf dem es ununterbrochen, lebt sowie nach den gemeinsamen vitalen Interessen seines nationalen Fortbestandes und der allseitigen Entwicklung seines moralischen und materiellen Lebens.9
Unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker gründeten die Konferenzteilnehmer von Korfu im Geiste bereits ein konstitutionelles, demokratisches und unitaristisches Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen unter Führung des serbischen Königshauses. Ausdrücklich erkannte man alle Traditionen und Religionen, alle Sprachen, Alphabete und nationalen Namen an und stellte eine Verfassung in Aussicht, die eine demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung mit qualifizierter Mehrheit beschließen würde. In klarer Abgrenzung von der Maideklaration bestand man auf der Zerschlagung des Habsburgerreiches.
Ende neu – vom Untergang und der Entstehung eines Staates
Abseits der Fronten und Konferenztische verschlechterten sich die Lebensverhältnisse im Hinterland im Angesicht des vierten Kriegswinters 1917/1918 dramatisch: Die Verteilung von Rohstoffen zwischen der ungarischen und der österreichischen Hälfte des Reiches funktionierte kaum mehr, die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln und Brennstoffen verschlechterte sich in den Städten wie auch auf dem Land nochmals. In Verbindung mit Epidemien wie Typhus und Grippe kam es zu Tausenden von Toten in der südlichen Monarchie. Damit verbunden sank die Truppenmoral. In mehreren Städten der Monarchie kam es Anfang 1918 zu Streiks, im Februar meuterten sogar mehrere Schiffsbesatzungen der Kriegsmarine in der Boka Kotorska und hissten mit Bezug zur russischen Oktoberrevolution rote Flaggen. Insgesamt stieg ab 1918 die Zahl der Desertionen dramatisch an. In Kroatien-Slawonien und Bosnien bildeten sich auf dem Land und in den Wäldern marodierende und plündernde Banden, so genannte „Grüne Kader“, die über Monate hinweg Angst und Schrecken verbreiteten.
Der Sommer 1918 war trotz fortdauernder Kämpfe geprägt vom Warten auf das Kriegsende – weithin unklar war nur, wie dieses aussehen würde. Hatte im Januar 1918 US-Präsident Wilson in seinen 14 Punkten für die Völker Österreich-Ungarns noch „die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung“ innerhalb des Reiches gefordert, also im Sinne der Maideklaration argumentiert, schwenkten die USA im September auf die Forderungen Frankreichs und Großbritanniens sowie der Nationalkomitees im Exil um und traten für ein unabhängiges Jugoslawien ein.
In Dalmatien und dem Küstenland bildeten Regionalpolitiker im Juli 1918 autonome Vertretungskörperschaften, um im August in Ljubljana einen Nationalrat der südslawischen Parteien der österreichischen Reichshälfte zu formen. Nach der faktischen militärischen Niederlage habsburgischer Truppen auf dem Balken überschlugen sich die Ereignisse. Am 5. Oktober gründeten südslawische Politiker aus beiden Teilen der Habsburgermonarchie den Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben, formten eine Regierung und lösten unmittelbar nach dem bereits erwähnten Oktobermanifest Kaiser Karls alle staatsrechtlichen Bindungen an Wien und Budapest.10 Kurz darauf gründete sich auch in Bosnien ein Nationalrat aus Orthodoxen, Muslimen und Katholiken. Am 29. Oktober vereinigten sich die Nationalräte dann in Zagreb zu einem „Staat der Slowenen, Kroaten und Serben“.11 Vollkommen unklar war jedoch, wie die Verwaltungsstruktur des Staates aussehen sollte, wo seine Grenzen liegen, welche Nachbarn und Mächte sie anerkennen und welches Militär sie sichern würden. Im Gebiet östlich der Mur, in Südkärnten und der Untersteiermark, in Görz, Istrien, Dalmatien, in der Batschka und im Banat besetzten ab dem Herbst 1918 verschiedene Einheiten reihenweise ehemals habsburgische Territorien. Sie versuchten ganz unterschiedliche politische Projekte und Staatsideen durchzusetzen, die meist nur für wenige Wochen überlebten. Vor allem die Konflikte um die Zugehörigkeit von Teilen Kärntens, Istriens und Dalmatiens dauerten über Volkstumskämpfe und Volksabstimmungen bis in die 1920er Jahre an – im Falle von Istrien sogar bis über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Sie prägen die Regionalidentitäten und die unterschiedlichen Erinnerungen bis heute.
Von Klagenfurt bis Sarajevo, von Osijek bis Zadar herrschten Ende 1918 Unsicherheit und Aufbruchsstimmung. Neben Jubelfeiern kam es zu Plünderungen, Vertreibungen und Morden. An manchen Orten enteigneten Truppen landwirtschaftlichen Großgrundbesitz und verteilten ihn an Bauern. Dabei traf die Gewalt nun häufig soziale und kulturelle Gruppen, die als vormals mit dem Feind verbündet galten – in Bosnien und Herzegowina etwa Muslime und Katholiken, in Kroatien-Slawonien vor allem Deutsche, Ungarn und auch Juden. Aufgrund der Unsicherheitslage baten die Regierungen in Zagreb und Ljubljana im November die serbische Regierung um Truppen zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung. Gleichzeitig schufen die Übergangsregierungen eigene bewaffnete Verbände, um gerade auf dem Land wieder für Sicherheit zu sorgen.
Angesichts einer Handvoll emotional diskutierter Konzepte eines zukünftigen Staats sowie angesichts italienischer Truppen in Dalmatien und Istrien beschloss die Nationalregierung in Zagreb Ende November mit überwältigender Mehrheit die Vereinigung mit Serbien. Die Kroatische Bauernpartei (HPSS) unter Stjepan Radić wandte sich als einzige vehement gegen ein bedingungsloses Zusammengehen mit Serbien. Radić argumentierte für eine Föderation aus dem „ethnographisch einheitlichen, (aber) durch die historische, kulturelle und politische Entwicklung in drei Stämme geteilten Volk der Slowenen, Kroaten und Serben“. Dennoch reiste Ende November eine Delegation aus 28 Mitgliedern der Zagreber Nationalregierung (ohne Radić) nach Belgrad. Montenegro hatte sich in der Zwischenzeit mit Serbien vereinigt, sodass die Delegation am Abend des 1. Dezembers die Vereinigung mit dem vergrößerten Serbien erklärte und Prinzregent Alexander Karađorđević das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ausrief.12
Die widerstreitenden Staats- und Nationskonzepte waren damit nicht vom Tisch. Die bald heftigen Diskussionen knüpften weitgehend nahtlos an jene aus den letzten Kriegsjahren an. Weit über die Verfassung von 1921 hinaus stritt man um nationalen Unitarismus eines dreinamigen Volkes oder einen (Kon-)Föderalismus distinkter Nationen. Es ging um Zentralismus oder regionale/lokale Selbstverwaltung, um kroatisches Staatsrecht und die Distinktion zwischen slowenischen und vor allem kroatischen und serbischen Interessen. Dabei war die politische Stellung der bosnischen Muslime häufig das Zünglein an der Waage und Teil des Disputs. Grundsätzlich schwächten somit der fehlende Grundkonsens und die mangelnde Kompromissbereitschaft politischer Opponenten das erste Jugoslawien von Beginn an.
Fußnoten
- Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1918. XXII. Session. Band IV. Wien 1918, 4566–4568, hier 4566. (Quelle: http://alex.onb.ac.at
- Österreichischer Reichsrat. Fortsetzung der politischen Debatte. In: Neue Freie Presse 19442 (10.10.1918), 6 (Quelle: http://anno.onb.ac.at
- An meine getreuen österreichischen Völker. In: Extra-Ausgabe der Wiener Zeitung 240 (17.10.1918). (Quelle: http://anno.onb.ac.at
- Verzichterklärung Kaiser Karls I. vom 11.11.1918. U. a. in: Extra-Ausgabe der Wiener Zeitung 261 (11.11.1918). (Quelle: http://anno.onb.ac.at
- Zusammenfassung der politischen Situationsberichte für Jan./Feb. 1917; Landesregierung Bosniens und der Herzegowina an das Gemeinsame Finanzministerium in Wien, 25.4.1917; Arhiv Bosne i Hercegovina, GFM PrBH 440/1917.
- Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1917. XXII. Session. Bd. 1. Wien 1917, S. 34. (http://alex.onb.ac.at)
- Božidar Vukotić am 8.2.1918 im Reichsrat: In: Stenographische Protokolle über die Sitzungen der Abgeordneten des österreichischen Reichsrates im Jahre 1917 und 1918. XXII. Session. Bd. III. Wien 1918, 3058–3063, hier 3063. (Quelle: http://alex.onb.ac.at)
- Deklaration der Serbischen Regierung in der Nationalversammlung (sog. Deklaration von Niš), 24.11./7.12.1914. In: Ferdinand Šišić: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914–1919. Zagreb 1920, S. 10.
- Deklaration von Korfu, 20.7.1917. In: Ebd., S. 96-99.
- Deklaracija Narodnoga Vijeća Slovenaca, Hrvata i Srba; Zagreb, 19.10.1918. In: Ebd., S. 179-181.
- Proglašenje samostalne države Slovenaca, Hrvata i Srba. Zagreb, 29.10.1918. In: Ebd., S. 179-210.
- Das zu Beginn des Beitrags eingefügte Wappen des Königreichs Jugoslawien zeigt im roten Schild die Einzelwappen von Serbien (links oben), Kroatien (rechts oben) und Slowenien (unten).